Ich beobachte diese Entwicklung auch und glaube, dass es an keinem der oben genannten Punkte direkt liegt. Meine Theorie ist eine andere.
Bevor sich Handy und Internet so richtig als Massenmedien durchsetzten, fand Kommunikation im umgangssprachlichen, privaten Bereich fast nur mündlich statt, und zwar als Gespräche von Mensch zu Mensch - oder heißt das jetzt "RL-Chat"? - oder als Telefonate. Oder man bekam bestenfalls mal in einer Trash-Fernsehsendung stammelnde Halbidioten als moderne Form der Freakshow vorgeführt, aber der restliche Programmrahmen ging halbwegs - und es ist ja eh alles mündlich, da kommt es nicht so auf Perfektion an.
Wenn mal irgendwo etwas geschrieben war, dann war es meist in irgendeiner Form aus "offizieller" Quelle: Zeitung, Buch, Zeitschrift, Magazin etc. Und dieses gedruckte Wort war traditionell auch der Hauptinformationsträger, bedrängt allenfalls durch das Fernsehen. Als Leitmedium für das geschriebene Wort gab es jedenfalls nur Presseerzeugnisse, und die waren mit Kosten und Risiko verbunden. Da war es Grundvoraussetzung, dass mindestens das Handwerkliche stimmte, sonst hätte man sich ja blamiert!
Vielleicht konnten übrigens Jugendliche damals noch schlechter schreiben als heute, aber man weiß es nicht, denn wann taten sie das schon einmal? Bestenfalls in der Schule (wo Fehler bestraft wurden) oder mal in einem Brief (wo man sich Mühe gab, weil man ja eh eine Weile dran saß).
Heute dagegen gibt es SMS und Internet, und Jugendliche schreiben oft, schnell und viel. Das Internet verdrängt auch zunehmend die Zeitungen als Leitmedium für die breite Masse. Und im Internet kann eigentlich jeder schreiben, und zwar wie er will. Denn um im Internet etwas für eine breitere Öffentlichkeit (also nicht nur für dreißig Geburtstagsgäste) "publizieren" zu können, ist man ja im Gegensatz zu Druckmedien nicht auf einen Verlag angewiesen, der auf seinen Ruf bedacht ist und einem daher z.B. Korrektoren auf den Hals hetzt und bei zu schlechter Qualität den Text rechts und links um die Ohren haut.
Das heißt aber auch, dass eben immer mehr Menschen tagtäglich mit schlechten Texten in Berührung kommen, und schlechte Angewohnheiten haben nun mal die Eigenart, schnell abzufärben und sich einzuschleifen. Dazu kommt dann noch eine gefährliche
laisser faire-Haltung und die Verwirrung durch das Rechtschreibgepfusche, das den Namen Reform nicht verdient hat. Und natürlich dieses berühmte "Ich könnte ja, wenn ich müsste, aber hier muss ich ja nicht."
Für diese Haltung gab es früher einfach keine Räume. Heute gibt es sie zuhauf - dieses Forum ist einer, und es wimmelt von Leuten, die angeblich alle alles können, es nur nicht ständig zeigen. Nur: wenn ich der beste Kugelstoßer der Welt bin, aber mit dem Hinweis auf Olympia in 3 Jahren jeden Tag nur noch Papierkügelchen schnipse - ich bin ja der beste, nicht vergessen! Ich könnte es ja, es ist mir nur gerade zu mühselig - dann muss ich mich nicht wundern, wenn ich bei Olympia plötzlich auch nicht mehr so ganz in Bestform bin. Aber das waren dann natürlich nur ein paar Flüchtigkeitsfehler, die können doch jedem... ich meine, wir sind ja alle nur Menschen... und eigentlich weiß man ja... ach, und jetzt ist man ja gerade wieder im Forum, da ist es eh nicht so wichtig. Denn: man kann's ja eigentlich, gell? Wissen wir ja alle.
Zu dumm, dass auch hier gilt: Man kann die Sprache nicht "einmal gelernt" haben, und das war's dann für den Rest des Lebens. Man muss sie auch üben und praktizieren. Gute Vorbilder und ein Klima, in dem Schlamperei nicht gern gesehen wird, animieren zum Nachmachen. Schlechte Vorbilder und ein Klima, in dem Schlamperei cool und alles andere spießig ist - auch. Nur eben in die andere Richtung.
A propos Coolness: Die ist sicherlich auch ein Faktor, denn auch dafür gibt es heute andere Räume. Ich schätze, früher haben Kinder und Jugendliche ihre Selbstverwirklichung in größerem Maße draußen oder bei "echten" Aktivitäten ausgelebt - da wurde dann der bewundert, der beim Lego-Spielen die tollsten Dinger baute, der im Schwimmbad vom höchsten Turm sprang, beim Fußball am besten dribbeln konnte, sein Moped am coolsten frisiert hatte. Heute hat sich vieles in eine Selbstdarstellung im Netz verlagert: Cool ist, wer eine möglichst dramatisch gestaltete Homepage hat, mit animierten Glitzerbildchen, selbstgemachten Grafiken und - mit möglichst individueller Sprache.
Da ist ja meist kein großer Inhalt auf den Seiten, sondern es geht vor allem um die Form, den Auftritt, den "Style". Und wenn da Text steht, dann steht der auch nicht da, um irgendeine Botschaft so verständlich und präzise wie möglich rüberzubringen. Sondern der steht da, um den "Style" seines Urhebers so expressiv und originell wie möglich auszudrücken. Man könnte auch sagen, der Stil IST die Botschaft, die Fassade der Kern.
Es wird also in einem von Unsicherheit (Rechtschreib-"Reform"), Resignation ("Ach, da blickt doch eh keiner mehr durch") und Gleichgültigkeit ("Du hast mich beim dritten Lesen doch verstanden, also mecker nicht") geprägten Klima noch munter mit der Sprache rumexperimentiert - eigentlich eine tolle Sache. Allein, den meisten fehlt dazu schlicht das Handwerkszeug. Weil sie eben heutzutage von durchschnittlichen bis *hüstel* suboptimalen Beispielen umgeben sind.
Hätten wir keine öffentlichen Räume, in denen man mit besch...ener Rechtschreibung und Ausdrucksweise durchkommt, würde sich das Problem womöglich wieder geben. Aber die Uhr lässt sich nun mal nicht zurückdrehen...
Nur mal so aus der Hüfte drauflosspekuliert und wie üblich konfus von Hölzchen auf Stöckchen.
@ voltaic: Guter Punkt, guter Beitrag! Ich sehe das auf der Arbeit und in englischsprachigen Foren auch oft, wie schlecht die Texte teilweise sind. "
It's (= it is) time for tea" und "A dog and
its owner" kann da auch keiner mehr auseinanderhalten. Phonetisch identische Wörter werden generell gern durcheinandergeschmissen.