Die Straße, in die sie vor wenigen Minuten eingebogen waren, war unbeleuchtet und Sarah hielt sich dicht hinter Echo. Das Mädchen schien im Dunkeln sehen zu können, sie wich mühelos Hindernissen aus, die Sarah kaum erkannte. Schon wieder wandte sie sich nach links und blieb dann abrupt stehen.
„Was ist los?“ Sarah versuchte die Dunkelheit zu durchdringen, aber mehr als ein paar ausgetretene Stufen, die nach unten führten, konnte sie nicht erkennen.
Echo lachte leise. „Wir sind da. Willkommen im Club. Hörst du es nicht?“
Sarah lauschte in die Nacht. Schwach war ein dumpfes, rhythmisches Wummern zu erahnen.
Sie stiegen die Stufen hinab und Echo öffnete am Ende der Treppe eine schwere Metalltür. Vor ihnen lag ein langer, schwach beleuchteter Gang, die immer noch fernen Geräusche waren jetzt deutlicher zu hören. Schnelle, hämmernde Beats, die tief in ihrem Körper Vibrationen auslösten. Von irgendwoher hörte sie Wasser tropfen.
Etwa auf halber Höhe des des Gangs bog Echo nach rechts ab, öffnete nach etlichen Metern eine weitere schwere Tür und wenig später noch eine. Das Gebäude musste riesig sein. Die Klänge wurden lauter, und Sarah glaubte, auch Stimmen heraushören zu können. Nach einer weiteren Ecke öffnete sich der Gang plötzlich zu einem größeren Raum.
Warmes Kerzenlicht holte eine fast verwaiste Bar aus dem Dunkel und tauchte ein paar Gestalten in sein unstetes Geflacker. Zwei Silhouetten lösten sich von der gegenüberliegenden Wand und kamen langsam auf sie zu. Echo blieb stehen und machte eine kurze, herrische Geste. Auch Sarah verharrte hinter ihr und beobachtete, wie die beiden betont langsam auf sie zu schlenderten.
„Musst du nicht schon längst im Bett sein, Rotznase?“
Die Jungen sahen selbst noch ziemlich grün aus, Sarah schätzte sie auf nicht älter als zwanzig. Der Typ, der an der Wand gelehnt hatte, schob betont lässig seine Zigarette von einem Mundwinkel in den anderen.
„Ohne ihren großen Aufpasser-Teddy traut sie sich um diese Zeit doch gar nicht hierher. Wo hast du ihn denn gelassen, deinen Baba?“ Seine Worte klangen verächtlich, doch die Augen huschten unruhig durch den Raum und straften seinen Ton und die scheinbar lockere Haltung Lügen.
„Jack und Johnny auf der Suche nach Streit. Ganz was Neues. Geht aus dem Weg, Jungs. Ihr wollt doch keinen Ärger, oder?“
Echos Stimme war so ruhig und sanft wie immer, trotzdem schwang in ihren Worten eine leise Drohung mit. Sarah war beeindruckt, wieviel Autorität dieses zarte Mädchen entwickeln konnte.
„Du fühlst dich wohl mächtig stark mit deinem Riesenbaby im Rücken?“, schnappte der kleinere der beiden.
Echo drehte sich langsam in alle Richtungen. „Komisch, ich kann hier niemanden sehen. Nur zwei Hosen*******r, die sich mächtig stark fühlen, wenn sie es nur mit einem Mädchen allein zu tun haben.“
Sie machte einen blitzschnellen Schritt nach vorn, ihr Gesicht war nur Zentimeter vor seinem und ihre Stimme nur noch ein Zischen, sehr leise und kalt.
„Verpisst euch. Sofort.“
Der Junge funkelte sie böse an, doch er wirkte plötzlich kraftlos und unentschlossen. Jack schob sich langsam an ihr vorbei und Johnny schlurfte hinterher. Beide ließen Echo keine Sekunde aus den Augen.
Auch ihr Blick folgte den beiden, bis sie hinter einer Ecke verschwanden.
„Die Desaster-Brüder. Lass dich nicht von ihnen beeindrucken, die tun nur so gefährlich. Sie nerven jeden, der ihnen auch nur ein bisschen Aufmerksamkeit schenkt. Die reinste Landplage.“
Echo steuerte auf eine Tür an der hinteren Wand zu. An der Bar saß nur noch ein Mann, der ab und zu an seinem Bier nippte und sich bisher nicht einmal gerührt hatte. Sarah warf einen Blick auf seinen Rücken und setzte sich in Bewegung.
Echo öffnete eine Tür zum angrenzenden Raum, und die Musik sprang sie so plötzlich an wie ein wildes Tier. Es war unbeschreiblich laut, und in der rauchgeschwängerten Dunkelheit, die von bunten Lichtfingern durchzuckt wurde, konnte sie kaum etwas erkennen. Echo hielt zielstrebig auf einen großen Schwarzen zu, an den Sarah sich vom Bahnhof her vage erinnerte.
„London, du warst nicht oft zu sehen in letzter Zeit. Hast du Sarah schon kennengelernt?“
Der Hühne musterte sie mit ausdruckslosem Gesicht und nickte dann. „Sie ist Hides Kleine, er hat uns mal bekannt gemacht. Und ich hab sie vor einer Weile im Bahnhof gesehen. Sah nicht besonders gut aus.“
„Genau deshalb wollte ich mit dir reden. Hast du etwas von Hide gehört? Er ist nach drüben gegangen, um Sarah zu suchen. Sie war weg.“
London warf Echo einen schnellen Blick zu. „Weg“ schien etwas zu sein, das nicht alltäglich war. Immerhin entlockte das Wort dem Schwarzen eine erkennbare Regung.
Auch Echo hatte seine Reaktion beobachtet. „Er ist nun schon etliche Wochen fort, und langsam machen wir uns Sorgen. Weißt du etwas? Vielleicht von einem der anderen Grenzgänger?“
„Nein.“ London verlagerte sein Gewicht auf das andere Bein. „Aber ich kann etwas rumhören, wenn du willst. Ich schulde Hide einige Gefallen, wäre gut, wenn ich mal einen davon abtragen könnte.“
Echo sah ihn an und überlegte. „Eigentlich bitte ich dich ja um einen. Aber ich kann mit Hide reden, wenn du meine Dienste nicht gebrauchen kannst.“
„Ist nichts gegen dich. Aber ich glaub kaum, dass ich Verwendung für deine Talente hab.“
Echo warf einen Blick auf seine Muskelberge. „Auch gut. Du klärst die Dinge eben auf deine Art, ich auf meine. Vielleicht willst du ja eines Tages mal etwas weniger Aufsehen erregen. Aber das ist dein Bier. Du weißt ja, wo ich wohne.“
London lachte laut, ein gutmütiges Lachen, das aber erkennen ließ, dass er sich nicht vorstellen konnte, jemals auf die Hilfe dieser halben Portion angewiesen zu sein. Echo war nicht beleidigt, und Sarah hatte ohnehin damit zu tun, die Erkenntnis zu verdauen, dass dieses Mädchen, das noch nicht einmal erwachsen war, hier so ungeniert um Dienste feilschte, die vermutlich eine Form von subtiler Gewaltanwendung beinhalteten.
„Ich seh dich dann morgen wieder hier, ja? Etwa um dieselbe Zeit?“ London schien es jetzt eilig zu haben.
„Sicher. Viel Glück.“
Echo trieb es jetzt, wo der Grund ihres Besuches erfüllt war, auf die Tanzfläche. Sie winkte Sarah, die versuchte, sich ihr trotz des Lärms verständlich zu machen.
„Ich seh mich ein bisschen um, okay? Mir ist es hier zu laut. Ich bin in etwa einer Stunde wieder hier.“
„Alles klar. Pass auf dich auf.“
Sarah schob die schwere Tür ein Stück weit auf und schlüpfte durch den schmalen Spalt. Sowie die Tür ins Schloss fiel, herrschte eine wohltuende Ruhe, nach dem Krach da drin hatte sie das Gefühl, taub zu sein. Rechts von ihr war ein langer Gang, und sie folgte ihm. Neugierig, in was für ein Gebäude Echo sie verschleppt hatte, wollte sie versuchen, es herauszufinden. Doch dieser Gang führte sie ins Leere. Nach einigen Abzweigungen stand sie am Ende vor einer verschlossenen Tür, deren Schloss so verrostet war, dass es sicher schon lange nicht mehr funktionierte.
Sie drehte um und ging langsam wieder zurück. Nach wenigen Metern hörte sie Schritte, die ihr entgegenkamen. Sie straffte ihre Haltung und ging schneller, doch die Bar war noch lange nicht in Sicht, als die Brüder Desaster vor ihr standen und ihr den Weg versperrten. Echos Worte geisterten in ihrem Kopf: ‚Lass dich nicht von ihnen einschüchtern.‘
Wieder war Johnny derjenige, der sich vor ihr aufbaute. „Na, was machst du denn hier so ganz allein? Wo hast du deine kleine Freundin gelassen? Na egal, dann haben wir eben ein bisschen Spaß mit dir, nicht wahr?“
Sarah holte tief Luft, um ihre Angst zu vertreiben. Sie antwortete nicht, weil sie sich ihrer Stimme nicht sicher war. Und sie spürte hinter einem Gefühl, das sich im Bermudadreieck zwischen Erstaunen, Entsetzen und Panik verstrickt hatte, dass sich irgendwo tief in ihr etwas zusammenbraute, das sie nicht einordnen konnte, von dem sie aber wusste, dass es ihr helfen würde. Es fühlte sich an wie das dumpfe Grollen eines Vulkans, das langsam, aber ganz sicher in ihr hochstieg.
Johnny trat einen weiteren Schritt auf sie zu. „Wie wär‘s denn mit uns beiden? Ich kenne da ein ruhiges Plätzchen, da stört uns niemand. Außer Jack vielleicht.“ Er grinste. „Na los, zier dich nicht so. Es ist niemand hier, der dich hören kann.“

Der Druck in ihrem Innern wurde nahezu unerträglich. Sie musste ein Ventil finden, oder sie würde ersticken. Sie wollte ihn anschreien, ihm ihre Nägel ins Fleisch rammen, ihn kratzen, beißen, doch sie konnte sich nicht rühren. Als sie glaubte, explodieren zu müssen, passierte es.
Es klang wie das Fauchen einer großen Katze, und die Augen des Jungen vor ihr weiteten sich. Es war Entsetzen, was sie in ihnen sehen konnte, und er trat auf der Stelle den Rückzug an. Sie wusste genau, was sie ihm gesagt hatte - und sie war sich auch sicher, dass er es verstanden hatte. Sie wusste auch, dass er sie nie wieder belästigen würde.
Die beiden vor ihr rannten fast, Jack fluchte lauthals vor sich hin, während Johnny sich nur stumm immer wieder umsah. Seine Angst konnte sie noch immer riechen.
Erstaunlicherweise war Sarah jetzt ganz still. Der Druck war verschwunden, dafür hatte sich eine ruhige Gelassenheit in ihr ausgebreitet. Und zufrieden war sie. Sie schnurrte leise und lächelte in sich hinein. Langsam folgte sie den beiden. An der Bar saß der Mann von vorhin, der sich noch immer nicht gerührt zu haben schien. Johnny sah aus, als hätte er sich etwas erholt, er fing nun auch an zu wüten und trat gegen einen der Stühle an der Bar. Er krachte auf den Boden und zerbrach.
Plötzlich stand der Mann dicht hinter ihm, griff nach seinem Gürtel und dem Kragen seiner Lederjacke und holte Schwung. Jack flog ein gutes Stück und rutschte auf dem nicht sehr sauberen Boden bis zur Wand, gegen die er mit noch beachtlichem Schub krachte. Sofort war der Mann über ihm.
„Du besorgst einen neuen. Nein, du besorgst zwei neue, klar? Die Dinger fallen nicht vom Himmel, und gerade ihr kümmert euch einen Dreck, ob Hier irgendwas erledigt wird oder nicht. Hauptsache ihr habt Spaß. Allerdings habt ihr heute wohl einen schlechten Tag.“ Er warf einen fragenden Blick auf Sarah. Dann grinste er. „Ja, einen ziemlich schlechten Tag.“
Jetzt fiel ihr ein, woher sie ihn kannte. Es war der Typ aus dem Bahnhof, der ihr damals so bekannt vorkam.
„Hallo. Kennen wir uns?“ Das mussten die Nachwirkungen ihres seltsamen Ausbruchs sein, dass sie es wagte, ihn einfach so anzusprechen. Aber das fühlte sich irgendwie nicht falsch an. Vielleicht lief das Hier ja so.
„Sicher. Ich hab dich einige Male bei Hide gesehen. Er ist sowas wie mein Freund.“
„Warum ‚sowas wie‘? Ist er oder ist er nicht?“
„Na, na, nicht so forsch, junge Dame. Ich heiße nicht Desaster, ich erwarte schon ein bisschen Respekt von solchem Junggemüse wie dir. Aber ich denke, mir ist schon klar, was passiert ist. Hide ist schon seit Wochen drüben, du warst auch lange nicht zu sehen, und dein Zustand im Bahnhof neulich sprach Bände.“
Er sah ihr forschend in die Augen.
„Hide hat keine Freunde. Nicht wirklich. Er ist freundlich, man kann sich auf ihn verlassen, aber er lässt niemanden wirklich an sich heran.“
Er ging langsam wieder zur Bar und lud sie ein, sich neben ihn zu setzen.
„Tut mir leid. Ich bin immer noch dabei, alles wieder zu lernen. Ich weiß nicht mehr, wie man sich verhält, und die Sache vorhin... hat mich ziemlich erschreckt.“
„Damit bist du aber ganz gut fertig geworden. Die Jungs sahen mir ziemlich erschrocken aus, denen musst du ja ordentlich Feuer gemacht haben. Hide sagte mir schon, dass du ziemlich tough sein kannst.“
„Weißt du nicht, wo er ist? Echo hat gerade jemanden um Hilfe gebeten, er soll Informationen besorgen. Hide kommt einfach nicht zurück, und alle scheinen sich langsam Sorgen zu machen.“
„Nein, tut mir leid, das ist nicht mein Metier. Ich spüre zwar auch manchmal Leute auf, aber nicht Dort. Wen hat sie gefragt? Groß und Schwarz? Ne Menge Muskeln?“
Sarah nickte.
„Kluges Mädchen. Wenn jemand was rausfinden kann, dann Just.“
„Just? Ich dachte, er heißt...“
„London, just London. Ist ein Scherz. Du solltest den aber nicht mit ihm machen.“ Er grinste sie gutmütig an. „Das dürfen nur Hide und ich.“
„Okay.“ Sarah sah sich suchend um. „Ich glaub, ich muss jetzt gehen. Echo wird schon warten. Es hat mich gefreut.“
Er gab ihr zum Abschied die Hand. „Ted. Ich komme bald mal vorbei. Grüß Babaloo von mir.“