Kapitel 27
Ich saß auf dem grauen Sofa und genoss die Stille. Niemand war zu Hause, nicht einmal Stan, sämtliches Leben schien aus der WG entwichen zu sein. Es war still und ich schaltete den Fernseher nicht an, vielleicht grade, um die Ruhe nicht kaputt zu machen. Stille. Das Einzige, was grade so vollkommen war. Selten kam es vor, dass ich ganz alleine in der WG war. Immer war irgendjemand da gewesen, ob es nun Mara war, die im Kühlschrank nach was Essbaren kramte oder sich mit Kira stritt, ob es Vanessa war, die fernsah oder Vera, die in irgendwelchen Zeitschriften blätterte. Immer war etwas los gewesen, man hatte jemandem zum quatschen gehabt.
Hatte. Die WG zerfiel, da half alles Schönreden und ignorieren nicht, Vera war unsere ‚Leitperson’ gewesen, die Anführerin, wenn auch nur still und heimlich, aber sie war es. Ohne sie konnten wir nicht, kriegten es nicht auf die Reihe, versuchten es gar nicht erst. Immer war sie es gewesen, die uns wieder hoch geholt hatte, wenn wir am Boden waren, die uns aufgemuntert hatte, mit der wir lachen und weinen konnten. Jetzt nicht mehr, sie war jemand anders geworden, hatte sich verändert, und mit ihr alles andere auch.
Vielleicht war es nicht unbedingt schlechter so, immerhin hatten Mara und ich die Kraft zum Aufhören gefunden und wer weiß, ob die Anderen nicht vielleicht bald nachziehen würden. Aber es war anders.
Ich lehnte meinen Kopf zurück in den weichen Stoff des Sofas und atmete tief durch. Wie vergänglich doch alles war. Heute lebst du noch in deiner heilen kleinen Welt und morgen befindest du dich alleine auf einem Schlachtfeld, auf dem nichts mehr steht.
Nächste Woche würde ich zur Polizei gehen. Gleich nach der Abtreibung. Abtreibung, Polizei, nach und nach wieder alles ordnen. Man kriegt es schon wieder hin.
Ich hörte, wie sich die Tür zur Küche öffnete und zwei lachende Menschen herein kamen.
Als Stan ins Wohnzimmer zu mir lief, dachte ich mir, dass es wohl Vanessa und Mara sein würden. Ich freute mich, nicht mehr alleine zu sein und grade als ich aufstehen wollte, kam Vanessa auch schon ins Wohnzimmer.
„Hi Lia, mit dir hab’ ich ja gar nicht gerechnet!“
Das schwarzhaarige Mädchen war dick eingepackt in Winterklamotten und ihren roten Wangen nach zu urteilen hatte sie einen längeren Spaziergang hinter sich.
„Wir waren im Park“, erzählte sie, während sie ihre Hände aneinander rieb, um sie zu wärmen.
„Kira hat uns begleitet.“
„Kira?“
„Ja, war lustig. Wir sind ganz schön gerannt, der Hund ist aber auch echt nicht kaputtzukriegen, nicht wahr, Stan?“
Sie sah auf den Stan, der keine Anzeichen von Erschöpfung machte und munter um den Tisch herum lief.
Jetzt kam auch Kira ins Wohnzimmer, die ebenso wie Vanessa noch ihren Wintermantel trug und keine Anstalten machte, ihn auszuziehen. Die beiden Mädchen ließen sich auf dem Sofa nieder.
„Das war echt mal was anderes“, schnaufte Kira und ihre sonst so blasse Haut wirkte erstaunlich frisch und gesund.
„Wie kommt’s, dass ihr was zusammen macht?“, fragte ich erstaunt. „Wo ist Mara?“
„Einkaufen“, entgegnete Vanessa. „Dekokram für die neue Wohnung, aber ich hatte echt keinen Bock auf Kaufhäuser heute. Und der Hund kann ja auch nicht den ganzen Tag in der Wohnung sitzen.“
„Ja, das stimmt. Ich habe so ein schlechtes Gewissen, dass ich…“
„Ach Lia, komm. Du hast echt andere Sorgen und ich liebe diesen Hund. Wir verstehen uns super. Wie geht es denn seinem Herrchen?“
„Ach… ganz okay so weit würde ich sagen, er redet und lächelt und so, aber die Ärzte… ach die wissen auch nichts, die sagen immer nur, man müsse abwarten.“
„Das ist doch der Standardspruch, den lernen sie sicher schon im Studium. Ich bin mir sicher, dass Black wieder wird, der weiß doch, dass er dich nicht alleine lassen kann, hm?“
„Ich hoffe…“
„Das wird schon. Hast du Lust, mit uns ein bisschen in die Stadt zu gehen, eine Kleinigkeit essen oder so?“
„Nee… Ich will mich nur ein bisschen ausruhen und vielleicht auch ein wenig was fertig kriegen, wird Zeit dass ich mal wieder Wäsche waschen und so… ach irgendwie habe ich alles so vernachlässigt, das geht gar nicht. Ich muss mich da mal wieder drum kümmern…“
„Nanu? Was bist du denn so… na ja, ich weiß nicht,
so halt?“
„Keine Ahnung, vielleicht werde ich alt.“
Ich grinste, doch hinter meiner Fassade fühlte ich nichts. Es tat mir Leid, dass alle so nett zu mir waren und versuchten, mich aufzuheitern, doch ich hatte einfach keine Lust, was mit ihnen zu unternehmen. War es nicht ungerecht dass ich draußen rum lief und das Leben genoss, während Black meinetwegen um das seine kämpfte und nicht einmal triviale Sachen wie den Regen oder den Wind spüren konnte?
Nachdem Vanessa und Kira wieder verschwunden waren und Stan es sich auf seiner Decke in der Küche bequem gemacht hatte, nahm ich mir vor, mein Leben wieder ein bisschen zu ordnen.
Ich ging in mein Zimmer und schnappte mir einen Stapel an mich adressierte Briefe, die in den letzten Wochen angekommen war. Aufs Brieföffnen hatte ich nie Lust gehabt und so dieses immer beiseite geschoben, handelte es sich doch eh nur um Rechnungen und anderen Quatsch, über den man sich nur ärgerte. Doch heute trieb mich irgendwas dazu an, mich darum zu kümmern. Anschließend wollte ich das Badezimmer putzen und ein bisschen Sport machen. Ja, so konnte es nicht weiter gehen, Black würde vielleicht entlassen werden in den nächsten Tagen und bei mir sah es aus wie Sau. Er durfte auf keinen Fall sehen, wie ich mich gehen ließ. Es sollte einfach alles sein wie vorher.
Erschöpft aber irgendwie auch befreit fiel ich wenige Stunden später ins Bett. Ich war stolz auf mich, so viel geschafft zu haben und nicht zuletzt hatte ich mich tatsächlich ablenken können und hatte endlich mal wieder über etwas anderes als Ärzte und bakterielle Infektionen nachgedacht.
Morgen war Donnerstag und ich stellte mir vor, wie ich gemütlich frühstücken und danach ganz in Ruhe zu Black fahren würde. Und abends würde ich mit Stan spazieren gehen, ja, das wollte ich wirklich, wenigstens um sagen zu können, das mal gemacht zu haben. Und so schwer konnte es ja wirklich nicht sein, Black lief er ja auch immer so problemlos hinterher und blöde anmachen würde mich mit dem Hund an meiner Seite auch niemand.
Ich kuschelte mich in mein Kissen und dachte über die letzte Zeit nach. Ja, mein Leben hatte sich wirklich verändert, aber allgemein war das doch positiv zu sehen, auch wenn im Moment grade alles furchtbar fies war. Und was würde bald kommen? Ob mein Leben wirklich abheben würde? Ob ich dann eine von denen werden würde, die von Anderen angeschaut und bewundert wird, weil sie einen tollen Mann, ein tolles Haus, ein tolles Leben hat? Ich malte mir aus, wie mich meine Mutter anrufen und zulabern würde und wie sie sagen würde, dass sie mich ja so gerne mal besuchen kommen würde, nach Italien wollte sie ja schon immer mal. ‚Nein’ würde ich sagen, ‚nein danke, jetzt brauchst du auch nicht mehr’ und ich würde auflegen und mich nie wieder bei ihr melden und sie würde ein schlechtes Gewissen haben und immer daran denken ‚was wäre wenn’. Ja, aus ihrer Tochter würde was geworden sein, was sie sich nicht erträumt hätte. Ihre Tochter führte ein erstrebenswertes Leben.
-
Gut gelaunt und frisch geduscht schlenderte ich am nächsten Morgen in die Küche. Der Duft von frischen Croissants und Kakao stieg mir in die Nase und am Frühstückstisch saßen Mara, Kira und Vanessa, die sich über Vor- und Nachteile vom Beruf der Foto- und Laufstegmodels unterhielten, aber nicht laut oder zickig, sondern so, wie man es sich von erwachsenen Leuten vorstellte, ruhig, gesittet, während Mara den Blätterteig ihres Croissants auseinander nahm und Kira sie ein wenig misstrauisch begutachtete.
„Guten Morgen, hübsche Frau“, wurde ich von Vanessa begrüßt.
„Hey, du siehst irgendwie erholt aus!“
„Wirklich? Danke…“ Irgendwie wusste ich nicht was ich sagen sollte, selbst wenn ich mich tatsächlich so erholt wie lange nicht mehr fühlte. War es denn angebracht, erholt zu sein? Auszusehen wie nach einem Wellnessurlaub? Ganz sicher nicht. Ich schämte mich ein bisschen, nahm mir einen Teller und eine Tasse und setzte mich schweigend zu den Mädchen an den Tisch.
„Laufsteg ist doch viel geiler“, argumentierte Kira, die sich in ihrer Diskussion mit Mara nicht unterbrechen lies. „Die fetten Designersachen da anhaben und vorführen vor den ganzen berühmten Leuten, dagegen ist doch so ein bisschen Fotos knipsen *******.“
„Weißt du, das wäre mir viel zu stressig. Fotos machen ist cool, da kannst du auch mal ******* gucken, dann machen sie eben ein neues, und deine Pickel kann man auch retuschieren.“
„Du willst sagen, ich hab Pickel?“
„Man, du weißt genau was ich meine. Aber ist doch viel chilliger, da einfach so rum sitzen, wirst fotografiert und kriegst auch noch Geld.“
„Ach du hast ja keine Ahnung. Die Atmosphäre auf dem Laufsteg…“
„Man!“, wurden die beiden Schwestern von Vanessa unterbrochen „Könnt ihr nicht einsehen, dass ihr beide einfach niemals Model werdet?“
„Na und!“, gaben Kira und Mara wie aus einem Mund dagegen und ich war mehr als überrascht über ihren plötzlichen Zusammenhalt. Es war doch seltsam, wie sich alles wendete.
Ich goss mir heißen Kakao in meine Tasse und nahm mir ein Brötchen, da Mara sich die letzten beiden Croissants auf ihrem Teller unzugänglich für Andere gebunkert hatte, wie sie es immer machte.
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Nach dem Frühstück schminkte ich stylte ich mich und war nach langer Zeit mal wieder richtig zufrieden mit meinem Aussehen. Ich fand, dass ich es Black schuldig war, nicht wie der letzte Penner am seinen Krankenbett aufzutauchen, sondern wie eine hübsche junge Frau, seine Frau. Doch ob er es doof finden würde, dass ich so viel Zeit mit Schminken verbrachte, statt schon früher zu ihm zu kommen? Ob er mich für oberflächlich halten würde? Vielleicht. Bestimmt. Oder würde er sich über mein Aussehen freuen? Ich beschloss, darüber nicht weiter nachzudenken, bevor es mich noch überkam und ich mich wieder abschminkte, sondern zog mir meine Jacke und die Stiefel an, verabschiedete mich von den Mädchen und machte mich auf zur Klinik.
Die Atmosphäre auf der Intensivsation war irgendwie anders, als von mir erwartet. Noch schlimmer, noch bedrückender als sonst. Es schien, als würde eine dunkle Wolke über dem Gebäude hängen, die alles darunter zu zerquetschen drohte. Die Ärzte und Schwestern schienen langsamer zu gehen, schweigsamer zu sein, dunklere Augenringe zu haben.
‚Nur Einbildung, komm mal klar, Mädel!’, schimpfte ich mit mir und betrat den Raum, in dem Blacks Bett stand.
Als er mich sah, lächelte er und obwohl ich mich freuen sollte und mich vor fünf Minuten noch gefühlt hatte, als könnte ich die ganze Welt umarmen, schnürte mein Hals sich zusammen.
Alles war wie am vorherigen Tag, schien jedenfalls so, vielleicht für Außenstehende. Doch mich schockierte Blacks Anblick aus unerfindlichen Gründen, schlug mich innerlich zu Boden.
„Hallo“, hauchte ich fast. „Wie geht’s dir heute?“
„Es geht schon“, sagte Black mit ebenso schwacher Stimme, wie ich es von ihm eigentlich schon gewohnt sein sollte. „Sie haben wohl die Medikation erhöht.“
„Was? Wieso das denn?“
„Damit ich schneller gesund werde“, antwortete er und lächelte schwach, doch es war nicht die Art Lächeln, die bis in mein Herz durchdringen konnte.
„Es… ich dachte es würde dir wieder besser gehen…“
„Mach dir keine Sorgen. Ich bin doch zäh. Wie sieht es eigentlich aus mit Italien, steht das noch?“
„Natürlich!“
Wie konnte er nur so eine Frage stellen, absurd. Als wenn sich daran was geändert hätte. Der Traum, unser Traum. Nur deswegen konnten wir das hier alles doch überstehen. Oder konnten wir etwa nicht?
„Und reicht dein Geld noch?“
„Na ja… ja, es wird knapp, aber für die Flugtickets auf jeden. Wir müssen da denn halt zusehen, das wir bald Arbeit finden.“
„Lia… der Schlüssel und Papierkram für das Haus sind in einem Karton in meiner Wohnung, ein kleiner blauer… der steht gleich am Fußende des Bettes.“
„Was, wieso sagst du mir das?“
Plötzlich fühlte ich eine ungeheure Angst in mir aufsteigen und ich spürte einen panikmachenden Druck im Herzen.
„Weil ich will, dass du das durchziehst.“
„Ja… aber du… wirst doch wieder gesund. Du… kommst doch mit.“
„Ich werde immer bei dir sein, Lia.“
„Black! Hör auf so zu reden… Du kommst hier raus, das weißt du doch, wir gehen gemeinsam. Du und ich, nur wir beide. Wir… haben einen Kräutergarten und einen Kamin und gehen abends an der Küste entlang, das hast du doch gesagt, weißt du nicht mehr?“
Tränen rannen mir über die Wangen und ließen meine schwarze Wimpertusche in dicken dunklen Tropfen in Richtung Mund rollen.
„Du bist stark, Lia. Und du wirst stark sein. Du wirst weinen, sehr lange, aber irgendwann wirst du wieder glücklich sein und lachen. Die Tränen werden trocknen, ich weiß es.“
„Ich will sowas nicht hören!! Du wirst nicht sterben! Du lässt mich nicht allein! Ich kann nicht ohne dich. Weil…ich liebe dich”, weinte ich, und es war das erste Mal, dass diese Worte über meine Lippen gingen. In meinem Herzen fühlte ich einen tiefen Schmerz und plötzlich schien sich alles um mich herum zu drehen und zu verschwimmen.
Black richtete sich in seinem Bett auf und seine Hand umfasste die meine plötzlich stärker als zuvor, es schien, als hätte er irgendwo her eine neue, unerwartete Kraftreserve bekommen.
„Lia”, begann er, und seine Worte klangen nicht mehr schwach, sondern ganz klar. „Versprich mir, dass du nach Italien gehst! Ich weiß, dass du die Kraft dazu hast.”
Dann sah er mir in die Augen und ein letztes Mal sah ich dieses unverkennbare Blitzen in den seinen, bevor er wieder in sich zusammensackte und sein Griff sich lockerte.
Noch bevor die Geräte zu piepen begannen und somit seinen Herzstillstand verkündeten, wusste ich, dass er mich nie wieder ansehen würde. Er würde nicht wieder aufstehen. Alles war vorbei.