Wie bereits angedroht - das Kapitel ist sehr... gesprächslastig.

Immerhin, Familie hat beim Probelesen übereinstimmend gesagt, dass es nicht langweilig ist; aber das ist ja auch Familie, was sollen sie schon sagen?
Bei den Lupenbildern lege ich euch die 2, die 4, die 19 und die 20 ans Herz, und vor allem die 14 - für alle dynastisch Interessierten und die, die den geheimnisvollen Leodric endlich mal sehen wollen.
Lupenbild 11 ist ein Alternativbild.
Und
@Bienchen: Jaaaaa! Das ist
endlich das Blumenkapitel!
Und jetzt wünsche ich euch viel Spaß!
Den Rest des Tages verbrachte ich damit, aufgebrachte und besorgte Menschen zu beruhigen. Die Kunde von dem geheimen Ritual und dessen Ergebnis hatte sich mit atemberaubender Geschwindigkeit durch Caer Mornas verbreitet, und die Hohe Halle war voller Menschen, die sich persönlich davon überzeugen wollten, dass es ihrem König wirklich gut ging.
Die meisten von ihnen waren beunruhigt über Artairs Entscheidung, allen Kindern der Cul´Dawr helfen zu wollen, und teilten seine Sicht der Dinge nicht. Vor allem nicht, weil das Leben und die Gesundheit ihres Königs dadurch gefährdet wurden.
Dian hatte alle Hände voll zu tun, und ich unterstützte ihn, so gut es mir möglich war.
Mit Einbruch der Dämmerung hatte ich das Gefühl, dass mein Kopf jeden Moment bersten würde, und ich sehnte mich nach frischer Luft.
Dian schien mir anzusehen, wie es mir ging, und bedeutete mir mit einer Kopfbewegung, dass ich gehen könne.
Die Halle hatte sich in der Zwischenzeit sowieso fast geleert, und so machte ich mich auf den Weg in den Garten.
2
Tief sog ich die frische, kalte Luft ein, in der schon eine Ahnung vom Frühling lag, und bewunderte die Sterne, die sich nach und nach am Firmament zeigten.
Dann schlenderte ich tiefer in den Garten, und meine Füße trugen mich wie von selbst zu dem Baum, den Artair, Brayan und ich als Kinder am liebsten gemocht und auf dem wir Stunden verbracht hatten, um uns vor den unerwünschten Kindermädchen zu verstecken.
Ich lächelte, dann ergriff ich kurzentschlossen einen der unteren Äste und zog mich hinauf. Er knackte ein wenig, aber er brach nicht, und ich kletterte rasch etwas höher und machte es mir in einer Astgabel bequem.
3
Na siehst Du, dachte ich,
es geht doch noch. So viel hat sich gar nicht verändert.
Doch, hat es wohl, sagte die kleine Stimme in meinem Innern.
Und Du warst vorhin wirklich gemein zu Goldlocke.
Halt die Klappe, knurrte ich; aber mir war klar, dass ich die Stimme nicht lange zum Schweigen bringen konnte. Das war mir noch nie gelungen.
4
Eine Weile genoss ich die Ruhe und Stille, doch dann hörte ich, dass sich Schritte näherten.
Es waren Mártainn und Shainara, die sich auf meinem Baum zu bewegten. Ich verhielt mich ganz still und hoffte, dass sie vorbei gehen würden, aber sie blieben direkt unter mir stehen und setzten sich dann auf die steinerne Bank, die gleich neben dem Baum stand.
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Ich seufzte erneut. Damit war meine Ruhe wohl beendet.
Ich wollte gerade vom Baum springen, um mich zu entfernen - und malte mir schon grinsend Mártainns Gesicht aus, wenn ich plötzlich vor seine Füße plumpste wie eine reife Pflaume - doch dann begann Shainara zu sprechen.
Und was sie sagte, ließ mir das Blut in den Adern gefrieren, und atemlos schmiegte ich mich wieder an den Stamm des Baumes.
„Du weißt so gut wie ich, dass Artair heute Morgen beinahe gestorben wäre, nicht wahr?"
„Es hat nicht viel gefehlt." Mártainns Stimme war tonlos.
Erschreckt hielt ich den Atem an. Ich war völlig schockiert. Ich hatte durchaus Angst um Artair gehabt heute früh; ein allumfassendes Gefühl von Hilflosigkeit und Bedrohlichkeit hatte mich während des ganzen Rituals nie verlassen, und die Schmerzen, die Artair zu ertragen hatte, waren unaussprechlich gewesen.
Aber ich hatte nicht einen Augenblick gedacht, dass Artairs Leben ernsthaft bedroht gewesen war.
„Es gab diesen Moment, kurz bevor Artair die Oberhand gewonnen hat und der Lichtblitz entstand, da wäre er uns fast entglitten, und der Schutz war nur noch hauchdünn", fuhr Shainara fort.
„Wenn der Schutz zerrissen wäre, oder wir ihn nicht mehr hätten halten können..." Ihre Stimme erstarb.
Mártainn fuhr sich mit den Händen durchs Gesicht, er sah sehr müde aus.
„Ich hatte von Anfang an kein gutes Gefühl bei der ganzen Sache", sagte er.
„Schon als ich hörte, was zu tun ist."
„Wer war es?", fragte Shainara leise. „Wer hat sich geopfert?"
Mártainn zögerte.
„Kinnon", sagte er schließlich.
„Oh, nein", stieß Shainara hervor, und ich konnte das Bedauern und das Mitgefühl in ihrer Stimme hören.
„Das muss furchtbar für Dich sein."
Mártainn schwieg, eine lange Zeit; doch schließlich antwortete er.
„Er war nicht viel älter als ich, aber er war so etwas wie ein Vater für mich.
Er war es, der vor vielen Jahren in unser Dorf kam und der einem Jungen, der von allen gemieden wurde, klar machte, dass das, was ihm wieder und wieder geschah und das niemand verstand, ein
Geschenk ist. Dass das Sehen eine Gabe ist, die von den Göttern kommt.
Er hat mich mitgenommen in den Heiligen Hain, und ich war voller Misstrauen und Ablehnung, aber er ist mir stets freundlich begegnet."
Er holte tief Atem, seine Stimme zitterte leicht, als er fortfuhr.
„Er war es, der mir immer das Gefühl gegeben hat, dass ich der Richtige bin für das Amt des obersten Druiden.
Er war es, der mir geholfen hat, den Verlust von Raghnall zu verkraften.
Raghnall, der Begabteste unter uns allen, von Runcal einmal abgesehen; Raghnall, der mir nachfolgen sollte und der jetzt in einem von Leodrics Kerkern vor sich hin vegetiert.
Niemals habe ich mich mehr verraten gefühlt als in dem Moment, in dem wir das Gewölbe betraten und ich sah, dass es Kinnon war, der die Daemonica geöffnet hatte."
Shainara legte ihre Hand auf Mártainns Arm.
„Geradlinigkeit war das erste, was er mich gelehrt hat", fuhr er fort.
„Höre Dir immer alle Argumente genau an, wäge ab, revidiere Deine Meinung, wenn Du Dich geirrt hast oder Dich jemand überzeugen kann, aber verleugne niemals Deine Überzeugung unter dem Druck von äußeren Zwängen.
Wenn Du von etwas wirklich überzeugt bist, musst Du es tun und bereit sein, den Preis dafür zu zahlen, nur so kannst Du Frieden finden und im Einklang mit Dir selbst leben. Und genau das hat er getan."
Mártainn senkte den Kopf.
11 Alternativbild
„Es war heuchlerisch, das Wissen anzunehmen. Wenn es falsch ist, die Daemonica zu öffnen, dann ist es auch falsch, sich anzuhören, was darin steht und das Wissen zu verwenden.
Und wenn es nicht falsch ist, dann gibt es keinen Grund, jemanden dafür hinzurichten.
Ich habe dagegen gestimmt, Shainara; ich wollte nicht, dass das Buch geöffnet wird. Ich war nicht von Anfang an dazu entschlossen, aber als ich sah, welche Unruhe und Zwietracht im Heiligen Hain entstand, weil wir nur darüber
redeten, wurde mir klar, dass genau das erneut der Anfang von etwas Bösem sein kann, so wie es schon einmal war.
Und wenn es wirklich wieder Runcal ist, dem wir entgegen treten müssen, dann können wir uns nicht die geringste Schwäche erlauben und dürfen nicht zulassen, dass wir erneut gespalten werden. Wäre ich also meiner Überzeugung gefolgt, dann hätte ich Kinnons letztem Wunsch nicht Folge leisten und ihn anhören dürfen.
Aber dann wäre sein Opfer umsonst gewesen, und das hätte ich nicht ertragen. Er war mein Freund und mein Lehrer, er war wie ein Vater für mich.
Ich hätte es einfach nicht ertragen. Und das hat er gewusst."
Lange Zeit herrschte Schweigen, und ich war beschämt, mit angehört zu haben, was nicht für meine Ohren bestimmt war.
Schließlich räusperte sich Mártainn.
„Aber geschehen ist geschehen, und Artair ist entschlossen, das Ritual so oft zu wiederholen, wie es nötig ist, um alle Kinder zu retten.
Und wir alle wissen, was es bedeutet, wenn Artair zu etwas entschlossen ist. Wenn er etwas für seine Pflicht hält, lässt er sich durch nichts davon abbringen.
Ich habe all die Jahre wieder und wieder versucht, ihm klar zu machen, dass er einen Mittelweg finden muss zwischen seinen Interessen und Bedürfnissen und denen der Menschen, die ihm anvertraut sind, aber es hat nichts gefruchtet."
„Wundert Dich das?", sagte Shainara leise.
14
„Er war ein
Kind, Mártainn. Ein Kind, das an dem einen Tag noch mit den anderen Kindern spielte, und am nächsten Tag beide Eltern verloren hatte und König wurde. Ein kleiner Junge, der seine Gabe nicht mehr erforschen durfte, sondern sie plötzlich wirklich einsetzen musste, um Leben zu retten. Der von einem Moment auf den anderen das Gefühl bekam, für ein ganzes Land, ein ganzes Volk verantwortlich zu sein.
Ich weiß, dass ihr euer Bestes gegeben habt, Dian und Du. Wir alle haben das getan. Aber es ist nicht dasselbe.
Er hätte noch viele Jahre Kind sein und Spaß haben sollen, hätte langsam hineinwachsen sollen in seine Aufgabe. Es hätte ihm erlaubt sein sollen, Fehler zu machen; Fehler, die nur ihn selbst betreffen und aus denen er lernen kann, so wie es bei jedem Heranwachsenden ist. Und nicht die Gewissheit zu haben, dass jede falsche Entscheidung weitreichende Folgen nach sich ziehen kann; Folgen, die Leben oder Tod für die ihm anvertrauten Menschen bedeuten können.
Sein Vater hätte ihn behutsam an seine Pflichten herangeführt, und er hätte ihm so vieles zeigen können, was wir nicht gekonnt haben. Auch Branagh hatte diesen unbedingten Willen zur Pflichterfüllung, aber er hat sich niemals selbst verloren."
„Wir hatten keine Wahl", erwiderte Mártainn.
„Wir mussten Artair zum König krönen, das weißt Du."
„Ja, natürlich weiß ich das. Aber das heißt nicht, dass ich glücklich darüber sein muss, einem Kind diese Last aufgebürdet zu haben."
„Du weißt doch, wie es ist", erwiderte Mártainn müde.
„Wir sind dem großen Ganzen verpflichtet. Es ist besser, zu vielen Dingen Distanz zu wahren."
Shainara nickte langsam.
„Es ist ein Glück für Artair, dass er Brayan und Neiyra hat."
Mártainn schwieg, und Shainara sah ihn aufmerksam an.
„Neiyra war sehr gut heute Morgen", sagte sie ruhig.
„Sie hat eine klare Kraft, sehr machtvoll. Obwohl sie nicht ausgebildet ist, tut sie intuitiv das Richtige."
„Trotzdem darf sie das nächste Mal nicht mit dabei sein." Mártainns Stimme klang entschlossen.
„Es stand auf Messers Schneide, heute Morgen. Wenn sie dabei ist, wird sich Artair vermutlich nicht davon abhalten lassen, sie zu schützen, und das erhöht die Gefahr für ihn."
„Ich werde nach Elaria schicken lassen", stimmte Shainara zu.
„Sie ist meine rechte Hand in Caer Galadon, und sie ist sehr gut. Sie kann Neiyras Platz einnehmen."
„Wir müssen uns viel besser vorbereiten", sagte Mártainn nachdenklich.
„Vielleicht gibt es auch einen Weg, der das Ganze vereinfacht. Wir sollten in alle Richtungen denken. Wir müssen unbedingt verhindern, dass Artair etwas zustößt."
Er schwieg einen Moment.
„Wenn Artair stirbt….", fuhr er dann fort, und seine Stimme erstarb.
„Ich weiß", sagte Shainara leise.
Lange noch blieb ich auf meinem Baum sitzen, als die beiden schon längst wieder gegangen waren, und dachte über das eben Gehörte nach.
Ich stimmte Mártainn ausnahmsweise einmal zu: Artair würde sich nicht davon abhalten lassen, mich zu schützen, und deshalb durfte ich das nächste Mal nicht mehr mit dabei sein.
Aber ich wollte verdammt sein, wenn ich einfach nur tatenlos zusehen und das Beste hoffen würde.
Entschlossen ließ ich mich vom Baum fallen. Ich wusste, was ich zu tun hatte.
Es gab nur eine einzige Person, die ich um Rat fragen konnte.
Lange lag ich in dieser Nacht wach auf meinem Bett und wartete ungeduldig auf den Schlaf. Und als ich spürte, wie er endlich langsam nach mir griff, öffnete ich entschlossen meinen Geist.
Das beinahe schon vertraute Gefühl, in einer Spirale aus Licht langsam abwärts zu gleiten, stellte sich sofort ein.
Und als ich auf dem Grund der Spirale angekommen war, fand ich mich inmitten einer Explosion aus Farbe und Duft wieder.
19
Ich blinzelte und sog tief die warme, lieblich duftende Luft ein.
Ich stand mitten auf einer Wiese, in einem Meer aus Blumen in allen erdenklichen Farben, die sich in der milden Brise sanft hin und her wiegten.
20
In der Ferne sah ich einen kleinen Hügel mit einem großen Baum, meinem Baum nicht unähnlich, und ich ging langsam darauf zu. Ich erklomm den Hügel und ließ mich am Fuß des Baumes nieder, umgeben von unzähligen Blumen.
Sanft strich ich mit den Fingerspitzen über die nickenden Blütenköpfe.
21
Ich hörte ihn nicht kommen, aber ich konnte seine Gegenwart spüren.
Ich wandte den Kopf, und dort stand er, groß und beeindruckend. Er sah nicht mehr so verwahrlost aus und trug auch nicht mehr seine Lumpen, sondern ein Druidengewand.
„Habt Ihr Euch entschlossen, ein Bad zu nehmen?", sagte ich, und er lachte. Sein Lachen war warm und ansteckend, und ich fühlte, wie sich ein Lächeln über mein Gesicht legte.
Er ließ sich neben mir auf die Erde fallen und streckte seine langen Beine aus.
„Ist das Euer Werk?", fragte ich mit einer Geste, die die Wiese, die Blumen und den Baum einschloss.
Er nickte. „Ich hatte das Gefühl, Ihr könntet Blumen lieben", sagte er ruhig, und nachdenklich sah ich ihn an.
Schließlich nickte ich. „Das tue ich."
„Eine ungewöhnliche Eigenschaft bei einer Frau, die so hart ist wie Ihr", sagte er.
Einen Moment schwieg ich.
„Ich bin nicht hart", flüsterte ich dann.
Er musterte mich mit gerunzelter Stirn. Ich meinte fast, seinen intensiven Blick auf meiner Haut spüren zu können.
„Ja, das ist wahr", sagte er schließlich, und ich wunderte mich, dass es mir einen Stich versetzte, als ich eine Spur Überraschung in seiner Stimme zu hören glaubte.
Wieder schwiegen wir eine Weile, aber es war eine angenehme Stille.
„Kann ich das auch?", fragte ich dann neugierig.
„So etwas erschaffen?"
„Aber ja", ließ er mich wissen.
„Das kann jeder Geistwanderer. Ihr könnt alles nach Euren Vorstellungen gestalten, angefangen mit Eurem eigenen Erscheinungsbild bis zu den kleinsten Details des Ortes, an dem Ihr sein wollt. Aber es erfordert viel Übung."
Er zwinkerte mir zu. „Wollt Ihr es versuchen?"
Ich zögerte einen Moment, dann nickte ich.
„Stellt Euch einfach vor, was Ihr ändern wollt. Ich zeige Euch, was Ihr tun müsst."
Sofort hatte ich ein Bild vor Augen, und ich konnte spüren, wie er mir behutsam die Richtung wies.
Explosionsartig änderten alle Blumen ihre Farben, und überrascht und entzückt lachte ich laut.
„Das ist wunderbar!", rief ich.
„Ja, das ist es", stimmte er zu.
„Aber es ist auch nicht ungefährlich. Es gab Geistwanderer, die sich völlig verloren haben. Sie waren nicht genug verwurzelt in der Wirklichkeit, sie hatten zu wenig, was schön und lohnenswert war und Grund zu leben."
Er sah mich ernst an.
Ich schüttelte den Kopf.
„Das trifft auf mich nicht zu."
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Ich beugte mich vor und sah ihm ins Gesicht.
„Habt
Ihr denn genug, was das Leben lohnenswert macht?"
Seine Augen verdunkelten sich, und er antwortete nicht.
„Wer seid Ihr? Wie lautet Euer Name?", fragte ich leise.
„Was spielt das für eine Rolle?", entgegnete er.
„Ich sagte Euch doch bereits, dass ich meinen Namen vor langer Zeit verloren habe. Ein Name ist nur ein Wort. Was würde er ändern? Er gehört nicht mehr zu der Person, die ich heute bin. Und kein Name kann beschreiben, wer ich bin und was aus mir geworden ist."
„Wenn ich nicht weiß, wer Ihr seid, kann ich mir nicht sicher sein über Eure Absichten und die Ziele, die Ihr verfolgt", erwiderte ich.
Er zuckte die Achseln.
„Das könnt Ihr auch nicht, wenn Ihr meinen Namen kennt. Und verfolgt nicht jeder seine eigenen Ziele?"
„Was sind die Euren?", wollte ich wissen.
Seine Stimme klang grimmig, als er antwortete.
„Seit vielen Jahren verfolge ich nur noch ein einziges Ziel. Wenn einem alles genommen wird, an das man glaubt, und man alles verliert, was etwas bedeutet, dann bleibt nicht mehr viel, das erstrebenswert ist."
„Was ist Euch geschehen?"
Nachdenklich blickte er in mein Gesicht.
„Eines Tages erzähle ich Euch vielleicht meine Geschichte", sagte er langsam.
„Ihr seid nicht die Einzige, die Vertrauen braucht, um sich zu öffnen."
„Ich vertraue Euch nicht", entgegnete ich.
„Aber ich bin bereit, Euch eine Chance zu geben."
Er lachte. „Das ist gut. Beides." Er strich sich mit der Hand über die Stirn.
„Ich kann nicht versprechen, dass ich auf alles eine Antwort geben werde", sagte er ernst.
„War mein Rat also erfolgreich?"
Ich nickte, sagte aber nichts.
„Mártainn hat gestattet, dass die Daemonica geöffnet wird?"
Ungläubigkeit lag in seiner Stimme.
Ich schüttelte den Kopf, dann berichtete ich ihm, was sich zugetragen hatte.
„Ich kannte Kinnon", sagte er leise, als ich geendet hatte, und ich glaubte, Trauer in seinen Augen zu sehen.
Eine Zeitlang blieben wir stumm, dann unterbrach er die Stille.
„Ihr wollt meine Hilfe, nicht wahr?"
„Ja", erwiderte ich. „Ich weiß nicht, was ich tun soll."
Rasch erzählte ich ihm, was ich erfahren hatte. Wie knapp Artair mit dem Leben davon gekommen war.
„Kann man irgendetwas tun, das das Ritual weniger gefährlich macht?"
Er runzelte die Stirn und wiegte bedächtig den Kopf.
„Ich bin nicht sicher", sagte er zögernd. „Ich muss darüber nachdenken."
Enttäuscht senkte ich den Kopf.
„Was habt Ihr denn erwartet?", sagte er belustigt.
„Mártainn und Shainara haben sich tagelang damit beschäftigt, und Ihr glaubt, ich weiß sofort eine Lösung?"
Er beugte sich vor und sah mir ins Gesicht.
„Ja, das
habt Ihr gedacht", sagte er lächelnd.
„Ich fühle mich geehrt, und es tut mir leid, dass ich Euch enttäuschen muss. Aber so einfach ist das nicht."
„Ihr habt recht", gab ich zu. „Aber Geduld war noch nie eine meiner Stärken."
Er lachte wieder. „Das glaube ich Euch aufs Wort."
Eine Weile beobachtete er mich aufmerksam.
„Da ist doch noch etwas", sagte er schließlich.
Zögernd sah ich zu ihm auf, aber dann begann ich zu reden.
„Was wisst Ihr über Visionen? Wie funktionieren sie?", sprudelte ich hervor.
Er zog überrascht die Augenbrauen hoch.
„Ihr seid doch ein geweihter Druide, nicht wahr?", fragte ich ungeduldig.
„Ja, das bin ich", gab er ruhig zurück. „Was wollt Ihr wissen?"
„Sind Visionen unabänderlich? Werden sie immer wahr?"
Er zögerte einen Moment.
„Habt Ihr die Gabe?", wollte er wissen, und ich nickte.
„Woran merkt Ihr, dass ein Traum mehr als nur ein Traum ist?", fragte er langsam.
„Und wenn Ihr
seht, gibt es dann Unterschiede bei den Visionen?"
Ich nickte zögernd.
„Worin besteht der Unterschied?", fragte er.
Ich runzelte die Stirn und versuchte, es in Worte zu fassen.
„Das Gefühl", sagte ich dann leise.
„Der Unterschied ist das Gefühl. Manche fühlen sich anders an.
Ich fühle mich anders."
Ich sah auf. „Es tut mir leid, ich kann es nicht besser erklären."
Er schüttelte den Kopf.
„Das müsst Ihr nicht. Ich weiß, was Ihr meint."
Er beugte sich zu mir. „Bei manchen Visionen habt Ihr ein unglaubliches Gefühl, nicht wahr? Ein Gefühl von Allmacht. Von Allwissenheit und absoluter Klarheit."
Überrascht sah ich ihn an.
„Ja", stimmte ich zu, „so, als ob alle Rätsel der Welt gelöst wären und es keine Fragen mehr gäbe."
„Diese Visionen kommen direkt von den Göttern", sagte er leise.
„Die Götter
reden mit mir?", fragte ich schockiert.
Er lächelte. „In gewisser Weise."
Ich brauchte einen Moment, um das zu verdauen.
„Warum kommen diese Visionen immer wieder?", wollte ich dann wissen.
Überrascht hob er die Hand.
„Habt Ihr denn nicht geantwortet?", fragte er, und ich sah ihn verständnislos an.
„Geantwortet? Nein, wie denn? Warum denn?"
„Wenn Eure Antwort ausbleibt, kommt die Vision immer wieder, natürlich nur solange, bis sie schließlich eintritt. Eine Gunst, die es ermöglicht, sich die Bilder wieder und wieder anzusehen. Erst wenn Ihr entscheidet, dass Ihr sie wirklich
gesehen habt, hört sie auf."
„Wie mache ich das?", fragte ich. „Antworten?"
„Ich weiß nicht", sagte er.
„Das ist bei jedem anders."
Erstaunen lag auf seinem Gesicht.
„Habt Ihr denn nicht gelernt, Eure Gabe zu beherrschen? Ich hätte eigentlich erwartet, dass eine Tochter Rhiannons und Nichte Shainaras von klein auf unterwiesen worden wäre."
Ich zuckte die Achseln.
„Shainara hat es versucht. Ich war nicht willig."
Er lachte herzhaft, dann warf er mir einen nachdenklichen Blick zu.
„So viel Zorn, tief drinnen", murmelte er.
„Ich weiß nicht, was Ihr meint."
Interessiert sah er mich an.
„Wie wollt Ihr Euren Zorn überwinden, wenn Ihr ihn nicht mal ansehen wollt?", fragte er, und ich starrte ihn sprachlos an.
„Es gibt einen Zorn, der es wert ist, genährt und am Leben erhalten zu werden", sagte er leise.
„Aber es gibt auch einen, den man hinter sich lassen sollte, damit man weiter gehen kann. Ich weiß nicht, von welcher Art der Eure ist. Wisst Ihr es?"
Ich zögerte einen Moment.
„Nein", sagte ich dann leise, und er nickte.
Eine Zeitlang fehlten mir die Worte. Aber es gab noch etwas, das ich unbedingt wissen musste.
„Kann man solche Visionen vortäuschen?", fragte ich.
„Ist es möglich, dass... jemand anders mir solche Visionen schickt?"
„Meduria?", fragte er, und ich nickte.
Er schüttelte den Kopf. „Niemand kann eine von den Göttern geschickte Vision vortäuschen oder manipulieren. Man kann sich in eine einschleichen, aber man kann sie nicht ändern."
35
„Und... werden sie immer wahr?"
Ich konnte die Angst in meiner Stimme hören.
Er sah mich aufmerksam an. „Ihr fragt doch aus einem bestimmten Grund, nicht wahr?"
Er konnte die Antwort auf meinem Gesicht lesen.
„Diese Vision, an die Ihr denkt - ist sie von den Göttern gesandt?", wollte er wissen.
„Ja", flüsterte ich.
Plötzliches Verstehen zeichnete sich auf seinem Gesicht ab.
„Jemand, den Ihr liebt?"
Ich nickte.
„Das ist schlimm", sagte er leise.
Er schwieg einen Moment.
„Es tut mir leid", sagte er dann und schüttelte den Kopf.
„Es ist noch niemals vorgekommen, dass eine von den Göttern gesandte Vision nicht eintritt."
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