„So lange?"
Verwirrt strich sich Ceard über die Stirn.
„Ich war so lange fort?"
„Was ist geschehen?", fragte Artair ruhig.
Im Halbkreis standen wir in Artairs Beratungskammer um Ceard, den Boten, den Artair zu Leodric geschickt hatte, herum.
Verstört sah er von einem Gesicht zum nächsten, in seinen Augen stand Verwirrung, Ratlosigkeit und Unsicherheit.
„Ich… ich weiß es nicht", flüsterte er.
Shainara trat auf ihn zu.
„Ganz ruhig", sagte sie leise und schloss ihre schmalen Hände um sein Gesicht. „Schließ die Augen."
Ceard schloss die Augen, und ich konnte spüren, dass etwas geschah.
Langsam beruhigte sich sein Atem und er entspannte sich. Schließlich trat Shainara zurück, und als Ceard die Augen öffnete, war sein Blick klar.
„Und jetzt fang an zu erzählen, von Anfang an", sagte Shainara.
„Was geschah, als Du Caer Mornas verlassen hast?"
„Am Anfang war alles ganz normal", begann Ceard langsam zu berichten.
„Ich bin gut vorangekommen, aber als ich mich Caer Umran näherte, bemerkte ich, dass etwas nicht stimmt."
Er runzelte die Stirn.
„Die Dörfer waren… zu ruhig, zu leer. Ich sah kaum eine Menschenseele."
Während er redete, hatte sich seine Stimme gefestigt; je länger er sprach, umso sicherer schien er sich seiner Erinnerungen zu werden.
„Als ich Caer Umran erreichte, waren die Tore geschlossen, und Lord Leodric war nicht da."
„Er war nicht da?", fragte Artair überrascht.
Ceard schüttelte den Kopf.
„Nein, und man wollte mir nicht sagen, warum er fort war. Es dauerte zwei Tage, bis er zurückkam, und als er mich sah, war er sehr erleichtert, denn er wollte gerade selber einen Boten zu Euch schicken. Sein Land wird überzogen mit Angriffen."
„Von wem?", fragte Artair stirnrunzelnd.
„Das weiß niemand", antwortete Ceard. „Es sind keine Cul´Dawr", fügte er rasch mit einem Seitenblick auf Torgar hinzu, dessen Miene grimmig war.
„Niemand kann wirklich sagen, wie sie aussehen oder woher sie kommen. Die Dorfbewohner, die einen Angriff überlebt haben, sind verwirrt und halb wahnsinnig, und niemand scheint sich genau erinnern zu können, was passiert ist. Lord Leodric ist mit seinen Männern beinahe Tag und Nacht unterwegs, aber er kann nicht überall sein. Er bittet dringend um Hilfe und Unterstützung, um mehr Männer und Pferde."
Ceard senkte den Kopf. „Aber das ist noch nicht alles", sagte er leise.
„Ist Runcal geflohen?", fragte Mártainn grimmig.
Ceard schüttelte wieder den Kopf.
„Nein, er ist noch da. Ich habe ihn mit eigenen Augen gesehen. Aber etwas ist seltsam, dort unten in den Kerkern, selbst ich konnte es spüren. Lord Leodric bittet deshalb außer um Verstärkung für seine Truppen auch inständig darum, dass ein Druide oder eine Priesterin nach Caer Umran kommt und die Bänne um Runcals Kerker prüft und einige… andere Dinge."
Er schauderte.
„Etwas… stimmt nicht, nicht nur in Caer Umran selbst, auch in den Gebieten rundum", fuhr er stockend fort.
„Seltsame und beunruhigende Dinge passieren dort; unerklärliche Dinge."
Er machte eine unbestimmte Geste mit den Händen.
6
Ceard sah auf, und ich sah Furcht in seinem Gesicht.
„Menschen… verschwinden einfach", sagte er leise.
„Besonders in den Dörfern und Siedlungen nahe der Wälder. Säuglinge sterben des Nachts in den Wiegen, scheinbar völlig grundlos. Die Tiere benehmen sich merkwürdig, sie fügen sich selber Schaden zu oder greifen plötzlich Menschen oder andere Tiere an, selbst die zahmsten Haustiere fallen wie aus heiterem Himmel über Kinder her. Pflanzen und Gräser sterben einfach ab, manchmal sogar Bäume, und aus den Wäldern hört man Schreie von seltsamen, namenlosen Kreaturen, die noch nie zuvor dort gesehen wurden. Und dann ist da noch… die Finsternis."
„Die Finsternis?" Mártainns Stimme klang wachsam.
7
Ceard nickte.
„Ja. Ich weiß nicht, wie ich es sonst nennen soll. Es ist wie ein… Nebel, aber doch anders; es verdunkelt den Tag, sogar die Nacht. Es kriecht aus den Wäldern und sickert aus dem Boden, und wenn es einmal da ist, verschwindet es nicht mehr. Es nähert sich unaufhaltsam Caer Umran, und wenn man einmal dort hineingerät, dann scheint man verloren."
Er holte tief Atem.
„Das ist es, was mir auf dem Rückweg zugestoßen ist. Ich ritt in der Dunkelheit am Saum eines Waldes entlang, um so schnell wie möglich Lord Leodrics Botschaft zu überbringen, und erst, als es schon zu spät war, bemerkte ich, dass das, was mich plötzlich umgab, noch dunkler war als die Dunkelheit. Mein Pferd scheute und geriet in Panik, und ich fühlte mich auf einmal benommen und orientierungslos und stürzte vom Pferd."
Man konnte Ceard ansehen, dass ihm dieses Geständnis unangenehm war.
„Mein Pferd rannte völlig kopflos davon, und ich… ich irrte umher und gelangte immer tiefer in den Wald."
8
Seine Augen flackerten unruhig.
„Ich sah… ich sah Dinge, die ich gar nicht sehen konnte. Grauenhafte Dinge, die verschwanden und wieder auftauchten, wohin ich mich auch wandte. Ich verlor jede Orientierung, jede Erinnerung daran, wer ich war und wohin ich eigentlich wollte."
Er schauderte.
„Irgendjemand – irgendetwas – war dort im Wald. Es… es lockte mich immer tiefer hinein, führte mich zu einer Quelle, aber wenn ich davon trank, wurde mein Durst nur stärker. Je mehr ich schlief, umso müder wurde ich, jede Beere und Wurzel, die ich aß, vertiefte meinen Hunger."
„Wie bist Du entkommen?", fragte Artair.
„Ich bin nicht entkommen", antwortete Ceard leise.
9
„Ich wurde gerettet. Plötzlich tauchte diese kleine, uralte Frau auf, ich weiß nicht, woher sie kam. Der Nebel schien ihr überhaupt nichts auszumachen. Sie griff nach meinem Ärmel und zog mich einfach mit sich, und als wir uns dem Saum des Waldes näherten, klärten sich meine Gedanken immer mehr. Als wir den Wald verlassen hatten, zeigte sie mir noch, wo sie mein Pferd angebunden hatte, und dann verschwand sie einfach. Sie hat nicht ein einziges Wort mit mir gewechselt, aber ohne sie wäre ich jetzt wohl tot."
Ceard senkte den Kopf, er wirkte völlig erschöpft. Artair legte die Hand auf seine Schulter.
„Ich danke Dir", sagte er ernst. „Geh ins Haus der Wache, iss etwas und schlaf Dich aus; aber vorher geh ins Medela und lass Dich von den Heilern gründlich untersuchen."
Ceard nickte. „Danke, mein König", sagte er, nickte Braghan zu und verließ die Beratungskammer.
Einen Moment lag tiefes Schweigen im Raum.
„Das ist… beunruhigend", sagte Bran dann. „Beunruhigend und seltsam."
„Es ist mehr als beunruhigend", erwiderte Mártainn grimmig.
„Jeder Zweifel daran, dass tiefste schwarze Magie im Spiel ist, sollte hiermit ausgeräumt sein."
Er sah Shainara an. „Einer von uns beiden muss nach Caer Umran und Runcals Kerker überprüfen. Ich will das niemand anderem überlassen."
Shainara nickte.
„Es stellt sich nur die Frage, was wir jetzt tun, denn schließlich haben wir noch ein anderes Problem, das dringend gelöst werden muss", fuhr Mártainn fort.
Er sah Torgar an, der bleich geworden war.
„Und das führt uns zu dem Kraftstern", sagte Artair. „Erzählt mir davon, dann entscheiden wir."
„Ein Kraftstern", begann Shainara, „ist eine Art magische Verstärkung. Wir alle haben gesehen, was während des Rituals mit Dir geschehen ist, und ich schätze, jedem dürfte klar sein, dass es unverantwortlich wäre, wenn wir dieses Ritual hunderte Male durchführen. Jedes Mal riskierst Du Dein Leben, von den Schmerzen mal ganz abgesehen; und von Mal zu Mal wird die Gefahr größer, dass Du Schaden nimmst. Ein Kraftstern würde uns die Möglichkeit geben, das Ritual bei allen Kindern gleichzeitig durchzuführen."
„Wie soll das gehen?", fragte Torgar überrascht.
„Wir bilden einen Stern aus Druiden und Priesterinnen", erklärte Mártainn.
„Es muss an einem Ort mit starken Kraftlinien geschehen, und wir bringen ein bestimmtes Symbol auf dem Boden auf. Artair steht in der Mitte des Sterns, im Kern des Zeichens, und von dort führen Strahlen nach außen, die sich immer mehr verästeln und verzweigen. An jedem dieser Teilungspunkte steht ein Druide oder eine Priesterin als Kraftknotenpunkt, und in den äußersten Ring werden wir die Kinder legen. Es gibt einen Zauber, der die Kraft und das Wesen aller im Stern befindlichen Druiden und Priesterinnen bündelt und zu einer einzigen zusammenführt, und auf diese Weise können wir als Leiter und Verstärker für Artairs Gabe dienen und sie nach außen zu den Kindern führen."
„Der Haken?", fragte Artair knapp.
„Es ist gefährlich", antwortete Mártainn.
„Natürlich", murmelte Brayan.
Mártainn warf ihm einen Blick zu.
„Es ist schwierig, alle im Einklang zu halten. Wenn die Verbindung bricht, können wir verloren gehen. Wenn die Anteile unserer Persönlichkeiten, die zu einem Ganzen zusammengeführt werden, den Weg zurück nicht mehr finden können, werden wir ähnlich seelenlos wie die Kinder. Deshalb können wir auch nur Druiden und Priesterinnen in den Kraftstern aufnehmen, die sich freiwillig dafür melden, unter Zwang ist das Risiko für alle ungleich größer."
„Und was ist mit den Schmerzen?", platzte ich heraus.
„Habt ihr vergessen, welche Schmerzen Artair hatte, als er nur zwei Kinder zurückgeholt hat? Wie soll das werden, wenn es hunderte sind?"
„Auch das ist eine Gefahr", sagte Shainara.
„Es gibt dafür eine Lösung – wenn das Ritual auf seinem Höhepunkt angekommen ist und die Seelen der Kinder in die Körper zurückkehren, müssen wir uns aus der Verbindung zurückziehen und die Einheit beenden, und zwar möglichst gleichzeitig. Dann findet die zurückschlagende Kraftwelle, die den Schmerz trägt, keinen Weg zum Ausgangspunkt zurück und zerschellt. Das Zeitfenster dafür ist allerdings sehr klein. Sind wir nur einen Bruchteil zu früh, schlägt das Ritual fehl. Sind wir zu spät, schlägt die gesamte Kraft auf Artair zurück."
„Und dann?", fragte Artair ruhig.
„Der Schmerz wird Dich sofort töten", sagte Mártainn, und Artair nickte.
„Wann und wo soll das Ganze stattfinden?", fragte er.
Mártainn trat an den großen Tisch und zog eine Karte heran. Er tippte mit dem Finger auf einen See, der zwischen dem Gebiet der Cul´Dawr und Caer Mornas lag.
„Wir halten diesen Platz hier für geeignet", sagte er.
„Es muss ein Ort mit starken Kraftlinien sein, aber der Heilige Hain und der Heilige Platz in Caer Mornas sind zu klein, Caer Galadon ist zu weit entfernt. Dieser Ort ist sehr stark, nicht ganz so stark wie der Heilige Hain, aber ausreichend; und er liegt in Reichweite."
Torgar war an den Tisch herangetreten und nickte bestätigend, als er sah, wohin Mártainn zeigte.
„Ich kenne den Ort", sagte er.
„Unsere Druiden führen dort einige Zeremonien durch, und wir könnten ihn gut erreichen."
Er sah zweifelnd zu Mártainn, Shainara und Artair auf.
„Ich kann nicht verstehen, dass ihr dieses Risiko eingehen wollt", sagte er zögernd.
„Unsere Kinder bedeuten Euch doch nichts."
„Eure Kinder sind unschuldig", erwiderte Shainara entschieden.
„Und hinzu kommt", ergänzte Mártainn, „wer auch immer diesen Sturm an schwarzer Magie entfesselt hat – wir können ihn oder sie damit nicht einfach durchkommen lassen. Eure Kinder sind nur der Anfang, wie Ceards Bericht aus Caer Umran gezeigt hat, und wenn wir tatenlos zusehen, werden wir das alle bald bitter bereuen."
Er sah zu Artair. „Ich wollte so bald wie möglich aufbrechen", sagte er. „Zuerst in den Heiligen Hain, und von dort wollte ich Botschaften an alle Druiden schicken, die entfernter leben. Dann wollte ich mit den Freiwilligen aus dem Heiligen Hain zum Ritualplatz voraus reiten und mit den Vorbereitungen beginnen, damit wir möglichst bald anfangen können, wenn alle anderen eintreffen."
„Ich halte das nach wie vor für das Beste", sagte Shainara.
„Ich werde nach Caer Umran gehen, es liegt auf dem Weg nach Caer Galadon. Ich werde eine Priesterin aus Caer Mornas einweihen und nach Caer Galadon vorausschicken, so sparen wir Zeit."
„Augenblick." Artair hob die Hand, und alle Blicke richteten sich auf ihn.
Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn und dachte einen Moment nach, dann zog er die Karte zu sich heran.
„Braghan", sagte er, und Braghan trat zu ihm.
„Du brichst sofort auf. Nimm dir drei Viertel der Wache, teil sie auf und schick sie zu den Truppen, hier, hier und hier" – er deutete auf einzelne Punkte auf der Karte – „und in die umliegenden Dörfer und Festungen. Zwei Drittel aller Männer sollen mit euch gehen, wir sammeln uns in einem Heerlager hier" – wieder deutete er auf einen Punkt auf der Karte – „und ziehen von dort gemeinsam nach Caer Umran."
Er hob den Kopf und sah Torgar direkt ins Gesicht.
„Unsere Waffenruhe hat weiterhin Bestand, auch wenn ich meine Länder entblöße?", fragte er ruhig, und Torgar nickte bestätigend.
Artair hob eine Augenbraue, dann wandte er sich wieder an Braghan. „Du weißt, was zu tun ist; mach dich so bald wie möglich auf den Weg. Ich stoße in einigen Tagen mit den Truppen aus Caer Mornas zu euch. Wir treffen uns im Heerlager."
Braghan nickte knapp und eilte hinaus.
„Ich werde zuerst mit Shainara nach Caer Umran reiten", sagte Artair. „Ich muss mir selbst ein Bild von der Lage machen, mit Leodric reden und ihm die Truppen übergeben."
Er wandte sich an Mártainn. „Wie viel Zeit braucht ihr, um die Druiden zu informieren, zu sammeln und das Ritual vorzubereiten?"
„Ungefähr zehn Tage", erwiderte Mártainn, und Shainara nickte.
„Torgar", sagte Artair, „Ihr werdet sicher so bald wie möglich aufbrechen und Eure Stämme benachrichtigen wollen. Könnt ihr eure Kinder innerhalb von zehn Tagen zum Ritualplatz bringen?"
Torgar überlegte einen Moment. „Das sollte zu schaffen sein", sagte er dann.
„Dann werde ich so schnell wie möglich zum Ritualplatz nachkommen. Bran, was ist mit Euch? Wollt Ihr uns nach Caer Umran begleiten?"
Bran schüttelte den Kopf.
„Ich werde euch nur ein stückweit begleiten. Der letzte Kurier, den ich nach Bréliande geschickt habe, ist mehr als überfällig, und angesichts der Nachrichten lässt mich das Böses befürchten.
Ich werde mich kurz vor Caer Umran von euch trennen und auf direktem Weg nach Hause reiten, um dort nach dem Rechten zu sehen."
Er zögerte einen Moment. „Es wäre mir lieb, wenn ich Ariadna hier in Caer Mornas lassen könnte", sagte er.
Artair nickte zustimmend. „Das ist auch mein Wunsch. Ich würde sie nur ungern den Gefahren dieser Reise ausgesetzt sehen. Sie wird sowieso bald meine Frau, ihr Zuhause ist jetzt hier. Wenn alles gut geht, sehen wir uns bald zur Hochzeit wieder."
Noch einmal musterte Artair die Karte, dann hob er denn Kopf. Entschlossen schlug er mit der Hand auf den Tisch. „Wir brechen in zwei Tagen auf", sagte er.
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