2. Kapitel ♦ Dumme Dinge
«Miranda!»
Ich bemerkte erst, dass ich eingeschlafen war, als ich wieder aufwachte.
«Mira! Schläfst du noch? Es ist schon –»
Das Licht brannte noch (das konnte ich sogar durch meine geschlossenen Lider sehen) und der Fernseher lief noch, doch ich konnte hören, dass Kim Vish seine übersinnliche Sendung schon beendet hatte. Wahrscheinlich schon längst. Wahrscheinlich war schon –
«– Nachmittag! Wir haben dich heute in der Schule vermisst.»
Belämmert schlug ich die Augen auf. «Was? Ich dachte, heute seien Ferien…?»
Ich rieb mir die Stirn. Erholsam war der Schlaf jedenfalls nicht gewesen. Ich hatte leichte Kopfschmerzen und zudem Schwierigkeiten, mein Gehirn, das hoffentlich wenigstens wieder die Grösse einer Ameise hatte, richtig zu gebrauchen.
«Das sieht dir ähnlich.»
Wer war das überhaupt?
«Oh Mann… Glaubst du, meine Eltern werden noch eine Absenz unterschreiben?», fragte ich, mehr mich selbst als Wen-auch-immer, und wünschte mir, endlich volljährig zu sein und die Entschuldigungsscheiben selbst signieren zu können. Wobei ich dann wahrscheinlich gar nie mehr zur Schule gehen würde.
«Nein, ist doch bloss ein Scherz!» Wer-auch-immer lachte. «Natürlich haben wir Ferien! Was machst du denn so? Nur schlafen?»
«Nö, ich guck noch Fernsehen, wie immer, wenn ich schlafe», antwortete ich und schaltete den Fernseher aus.
Wer-auch-immer umrundete den Sessel und lächelte mich an. «Du bist das schönste Mädchen der Welt. Auch wenn du total verpennt bist.»
Ich blinzelte. «Alexandros?!
Du bist das?»
«Äh… ja. Gewissermassen. Schon die ganze Zeit. Wen hast du denn erwartet? Dein Vater hat mich reingelassen.»
«Ich… ich… ich dachte… Keine Ahnung! Irgendjemand halt, aber doch nicht du! Ich dachte, du seiest tot!»
Alexandros schüttelte den Kopf. «Nein. Ganz und gar nicht. Wie kommst du denn auf solche Ideen? Hast du schlecht geträumt?»
«Nein… Ich habe… Kim hat gesagt, es wird ein Unglück geschehen, und es betrifft jemanden, den ich liebe, und –»
«Kim? Wer ist Kim?»
«Na, Kim Vish, der berühmte Wahrsager…», antwortete ich kleinlaut. Oh mein Gott. Die Telefonrechnung!
«
Kim Vish?! Bist du von allen guten Geistern verlassen? Hast du den etwa
angerufen?»
Ich nickte. Und zwar als Antwort auf alle Fragen.
«Spinnst du? Miranda! Sei normal!»
«Ja, dafür ist es jetzt zu spät. Wenn du mir das heute Morgen um zwei Uhr gesagt hättest, hätte es viel mehr genützt», motzte ich. «Aber da war mein Gehirn schon pantoffeltierchengross, und während des Telefonierens mit Kim hatte es dann nur noch die Grösse eines –»
«–
Micrococcus, ich weiss», seufzte Alexandros. «Nun gut. Ich schlage vor, dass du diesen Mist so schnell wie möglich wieder vergisst, okay? Es ist ja kaum zu fassen, dass du da überhaupt anrufst, aber dass du an den Quatsch auch noch
glaubst, schlägt dem Fass den Boden aus!», schalt er mich, doch er musste sich ein Grinsen verkneifen. Wahrscheinlich gewöhnt man sich daran, wenn man mit einer Irren zusammen ist. Dass da ab und zu nicht nachvollziehbare Gedankengänge passieren. Und wenn man an den Narr denkt, den Kim ja gezogen hatte, ist es ja auch nicht verwunderlich, dass mir dauernd dumme Sachen passieren.
Alexandros griff mich an den Händen und zog mich aus dem Sessel, bis ich stand. «Okay, Mira, schönstes Mädchen der Welt, du vergisst jetzt auf der Stelle jedes einzelne Wort, das dieser Kim Vish gesagt hat, und dann werde ich dich zur Belohnung küssen.»
«Okay», stimmte ich sofort zu, obwohl ich fürchtete, Mundgeruch zu haben. Hatte ich mir gestern vor dem Fernsehen noch die Zähne geputzt? Ich wusste es nicht mehr.
«Ich vergesse alles.» Zumindest etwas, das mir nie schwerfällt. Vergessen.
Doch da fiel mir der Fisch wieder ein. Himmel! Alexandros war offensichtlich nicht damit gemeint. Aber wer dann? Wer? Wen liebte ich noch? Okay, meine Familie und so, meine Freunde… Familie… Familie! «Marcel!», rief ich laut aus.
«Was? Was ist mit Marcel?»
«Oh… Nichts», sagte ich schnell. «Nur… Marcel. Ich habe mich gefragt, wo er wohl ist. Er ist gestern noch weggegangen.»
«Mira, du bist seine Schwester, nicht seine Mutter. Er wird bald nach Hause kommen oder ist es schon längstens. Schliesslich hast du den halben Tag verschlafen.»
Ich nickte wieder, obwohl ich nicht sonderlich überzeugt war. Aber davon durfte Alexandros ja nichts wissen.
Er zog mich näher an sich heran und küsste mich auf den Mund. Er roch wie immer leicht nach Lavendel, und seine dunkelblauen Augen zwangen mich, meine zu schliessen. Manche Dinge sind zu schön, um sie betrachten zu können. Noch immer löste seine Nähe ein unbeschreibliches Kribbeln in meinem Magen aus, obwohl wir doch eigentlich aus der ersten Verliebtheits-rosarote-Brille-Phase schon raus waren. Trotzdem hätte ich am liebsten die gleichen Raum-Zeit-Koordinaten wie er eingenommen, um ihm noch näher zu sein. «Ich liebe dich so», flüsterte ich leise. «So sehr.»
«Ich dich auch. Ich liebe dich, Miranda.»
Nach einer Weile lösten wir uns voneinander. Ich konnte nicht aufhören, blöde zu grinsen, meine Gesichtszüge waren – wie so oft – unkontrollierbar.
«Hey, hast du heute noch was Bestimmtes vor?», fragte er mich. «Oder musst du im Restaurant helfen?»
Ich schüttelte den Kopf. Mit den Ferien begann zwar auch die Hochsaison in Sachen Touristen, und mein Vater war um jede Hilfe im Restau froh, aber am Nachmittag hielt es sich sicherlich noch in Grenzen. «Abends, vielleicht. Aber jetzt wahrscheinlich nicht.»
«Ich muss leider im Hotel aushelfen. Den Leuten dumme Fragen beantworten und vielleicht auch mal etwas putzen und so. Mein Vater hat versehentlich eine falsche Adresse eingetragen, und jetzt reisen zwei Familien zu einem anderen Hotel. In Frankreich.»
«In Frankreich? Ja, wissen die denn nicht einmal, in welches Land sie in den Urlaub fahren?», fragte ich verblüfft. «So dumme Leute gibt es also! Da bin ich ja direkt intelligent dagegen!»
Alexandros lächelte. «Das bist du sowieso. Aber du kennst die Leute ja, manche wissen nicht einmal, ob Cuora ein eigenes Land ist oder bloss eine Region von Frankreich oder Italien.»
«Ja. Trotzdem. Dumme Leute. Touris eben.»
«Immerhin bringen sie Geld!», beschwichtigte Alexandros und grinste. «Aber hättest du nicht Lust, mitzukommen? Du musst ja nichts tun, nur den Leuten dein bezauberndes Lächeln schenken. Und mir würde es gleich viel mehr Spass machen.»
«Okay», stimmte ich zu. Es gibt echt Schlimmeres, als mit Alexandros auf Französisch oder Italienisch – je nachdem, welche Sprache sie nicht beherrschen – über die Touristen zu lästern. Zu dumm, dass ich kein Griechisch kann, das wäre ja noch viel lustiger gewesen.
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So, ich hoffe, ihr seid brav beruhigt, weil zumindest Alex nichts zugestossen ist…

Ich weiss, dieses (und vielleicht auch das nächste) Kapitel ist/sind ziemlich langweilig, aber das geht auch vorüber.

LG