Senator Siron Il Amas blickte aus dem Fenster. Die Welt sah friedlich aus. Die Sonne stand schon hoch über Arkidia, und die Lichtstrahlen fielen freundlich durch das Blätterdach der Bäume. Kleine Lichtpunkte tanzten auf dem Grün. Der Wind spielte mit den Ästen, und winzige Flügelwesen huschten durch die Luft.
Der Senator seufzte. Manchmal kam es ihm so vor, als wolle die Natur ihn mit ihrer Schönheit verspotten, denn gerade an Tagen, an denen er die schwierigsten Entscheidungen treffen musste, lachte die Sonne am lautesten.
Ja, die Welt sah friedlich aus, doch dieser Friede wurde teuer bezahlt. Er war ein kostbares Gut, das beschützt werden musste. Und am besten konnte man dies tun, indem man lauernde Gefahren in ihrem Keim erstickte, ohne dass jemand jemals davon erfuhr. Natürlich musste man Opfer bringen. Jeder musste das. Unglücklicherweise war der Senator der Meinung, er wäre derjenige, der von allen am meisten zu leiden hatte, und er glaubte sogar, er wäre der einzige, der den Frieden bewahren könnte.
Ihm war es zu verdanken, dass man die Verkuri wieder entdeckt hatte, dass bestimmte Arkidianer wussten, welche Gefahr sie darstellten - und ihm würde es zu verdanken sein, wenn sie für immer ein Mythos blieben.
Das ungeduldige Piepen des Kommunikators riss Siron Il Amas aus seinen Gedanken. Er atmete tief ein. “Übertragung freigeben...”
“Stimme erkannt” - “Übertragung startet”
Das Gesicht eines guten Freundes erschien auf der Bildfläche. Captain Munos Il Inkab sah sehr müde aus. Die geheime Mission der Raumstation
Nereia war zu seinem Lebensinhalt, aber auch zu einer schweren Bürde geworden. Jeder musste Opfer bringen, auch Munos wusste das. Siron mied sein eigenes Spiegelbild schon seit Tagen und auch jetzt war er froh, dass er die Kamera deaktiviert hatte, und Munos sein mageres Gesicht nicht sehen musste.
“Siron?”
“Ja.”
“Ist die Übertragung gesichert?”
“Ich lasse alle meine Übertragungen verschlüsseln, das weißt du, Munos.”
“Ich wollte nur sicher gehen”, erwiderte der Captain.
“Ich weiß... Was gibt es Neues? Wurden die Terranerinnen schon untersucht?” Beinahe hätte Siron das Wort “Mischlingsmädchen” benutzt, aber es klang selbst für seine Ohren etwas zu barsch.
“Sie sind gerade bei Dr. Ha’Likuna.”
“Gut. Ich brauche die Ergebnisse so schnell wie möglich. Was ist mit dem Verkuri?”
“Er sitzt in einer Spezial-Zelle. Luft- und strahlenundurchlässig. Genau so, wie du es veranlasst hast.”
“Gut. Gab es sonst noch einen Zwischenfall? Hast du herausgefunden, wer unbefugt in die Datenbank eingedrungen ist?”
“Nein, bis jetzt nicht”, antwortete Munos und klang dabei so, als müsste er gerade einen Hustenreiz unterdrücken. “Ich bin unschlüssig, was ich jetzt mit dem Verkuri tun soll.”
“Wir müssen einen Weg finden, ihn zu vernichten.”
“Das weiß ich, aber... selbst als wir diesem Verkuri-Mädchen den Kopf abgetrennt haben und dachten, es sei tot, lebte es noch! Ich bin mir ziemlich sicher, dass es damals eine Falle war, schließlich lag sie plötzlich auf diesem Schiff, und sie ist mit der Terranerin verschwunden, und -“
“Sicher war das alles von den Verkuri geplant, aber wir mussten die Situation nutzen und etwas über sie herausfinden, nicht? Dr. Nayim war unsere fähigste Histologin -“
“Aber sie wurde von den Verkuri kontrolliert! Ich meine, wer sagt uns, dass sie nicht auch uns kontrollieren? Vielleicht war es gar nicht unsere Entscheidung, Dr. Nayim diesen Auftrag zuzuteilen?”
“Wie auch immer. Wir können jetzt nichts mehr daran ändern.”
Ein Lufthauch strich über Sirons Wange. Ganymée hatte den Raum betreten und wie immer, wenn er sie sah, schien das Universum für einen Moment weniger schwer auf seinen Schultern zu lasten. Die ungewöhnlich hellen blauen Haare seiner Assistentin - nein, seiner Vertrauten, seiner Schutzbefohlenen - glitzerten im Licht der arkidianischen Sonne. Lautlos ließ sie sich auf einem Sessel nieder. Ihre Augen funkelten, wahrscheinlich war sie wieder wütend.
“Und wenn es jetzt wieder eine Falle ist?” Munos Stimme klang nervös.
“Ich gehe davon aus, dass es eine ist”, antwortete der Senator leise und versuchte dabei, Ganymées Blick zu meiden.
“Oh.” Munos schwieg für eine Sekunde. “Ja.”
“Wenn der Verkuri vernichtet wird, stellt er auch keine Gefahr mehr da, Munos. Du weißt, es geht um mehr als nur um eine Raumstation.”
“Ja, das weiß ich.” Für einen Moment flackerten die Pixel in einem seltsamen Licht über Munos’ Gesicht. “Dann werde ich mal an die Arbeit machen. Grüß' Ganymée von mir!”
“Das werde ich. Leb’ wohl!”
Der Kommunikator knackte dumpf, und die Verbindung war beendet. Siron starrte noch eine Weile auf den grauen Bildschirm und versuchte genug Kraft für das nächste Gespräch zu sammeln. Wieder seufzte er.
Jeder muss Opfer bringen, rief er sich ins Gedächtnis, und dann sah er Ganymée direkt in die Augen.
“Das muss aufhören” sagte sie nur.
“Ganymée, wir können jetzt nicht aufhören! Wir sind schon so weit gekommen. Wir -“
Sie stand auf, und er hielt den Atem an. Manchmal war es schwer, die Tatsache zu verdrängen, dass er sie schon als kleines Mädchen in seinen Armen gehalten hatte.
“Das ist mir egal.” Ihre Stimme klang gefasst. “Ich habe Verwandte auf diesem Schiff. Munos leidet, siehst du das nicht? Du hast recht, wir haben viel erreicht, wir sind weit gekommen, aber muss man denn alles bis zum Äußersten treiben? Hol sie zurück, Siron. Bitte!”
“Ich kann sie nicht zurückholen.”
“Siron...”
Es war schwer, sich zu konzentrieren, wenn sie ihn so ansah. Wahrscheinlich wusste sie das. In der letzten Zeit hatte Ganymée sich auffallend oft bis tief in die Nacht mit alten Dateien beschäftigt. Siron befürchtete, dass sie bald zu viel wissen würde - und dass sie enden würde, wie alle, die zu viel wussten. Warum nur verlor man, um ganze Völker zu retten, immer gerade diejenigen, die man am meisten liebte?
Siron schüttelte den Kopf, um diesen Gedanken so schnell wie möglich wieder zu vertreiben. Was für ein Irrsinn! Ganymée war hier, um unter seiner Kontrolle zu sein, und jetzt war sie es, die ihn nur mit einem Blick aus der Fassung bringen konnte!
“Ich habe Verwandte auf diesem Schiff”, wiederholte sie.
Siron bemühte sich, ihr nicht zu tief in die Augen zu sehen. “Dein Onkel wusste, auf was er sich einließ.”
“Mein Bruder ist auf diesem Schiff. Gyras weiß nicht, in welcher Gefahr er sich befindet!”
Siron hob abweisend die Hand. “Oh, Gyras ist zwar unwissend und vielleicht durch jugendlichen Leichtsinn auf
Nereia gelandet, aber ich bin mir sicher, dass er mittlerweile sehr genau weiß, was die eigentliche Mission der
Nereia ist. Wir alle müssen Opfer bringen, das weißt du.”
“Ja.” Ganymées Blick wurde weicher. Er wusste, woran sie dachte.
Senator Siron Il Amas war einst ein glücklicher Mann gewesen. Er hatte eine Frau gehabt, die er sehr geliebt hatte, und eine Tochter, die der Mittelpunkt seiner kleinen Familie gewesen war - auch wenn seine Verwandtschaft immer nur ungläubig den Kopf geschüttelt hatte. Ein terranisches Mädchen zu adoptieren schien in ihren Augen ein gewagtes Experiment zu sein: Ob man so ein verabscheuungswürdiges Wesen überhaupt zu einer verantwortungsbewussten Frau erziehen konnte? Doch trotz allem dummen Geschwätz hatte Siron seine Tochter geliebt.
Die Verkuri hatten alles zerstört: ihm seine Tochter entrissen, seine Frau in den Selbstmord getrieben. War es nicht gerecht, dass auch andere Opfer bringen mussten?
Es ging hier nicht um seine persönliche Rache! Es ging darum, einen Weg zu finden, die Verkuri zu vernichten, bevor noch mehr Leid durch sie entstehen konnte. Es ging um den Frieden!
“So lange der Verkuri an Bord ist, kann ich die Raumstation nicht zurückbeordern. Dann würde alles aus dem Ruder laufen.”
“Du könntest zumindest einen Teil der Besatzung evakuieren.”
“Das würde zu viel Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Wie sollte ich das begründen?”
“Ein Reaktorzwischenfall.”
“Dann müsste ich das komplette Schiff evakuieren.”
“
Dann tu das!” zischte Ganymée wütend, drehte sich um und rauschte aus dem Zimmer. Ihr Geruch hing noch in der Luft. Siron ballte seine Hände zu Fäusten, bis die Gelenke hell hervortraten. Ihr Duft spielte mit seinen Nasenflügeln. Es quälte ihn.
Siron konnte sich nicht erklären, warum er so nachlässig geworden war. Er brauchte sie, aber dadurch, dass er sie immer in seiner Nähe haben wollte, hatte sie zu viel erfahren. Sie tanzte ihm auf der Nase herum!
Sirons Faust knallte auf den Tisch. Der Schmerz im Handgelenk ließ in klarer denken.
Jeder musste Opfer bringen! Das Universum verdiente Frieden! Siron würde diesen Frieden um jeden Preis beschützen - auch wenn er wieder und wieder diejenigen verlieren musste, die er liebte.
Der Schmerz in seiner Hand verebbte. Zurück blieb ein angenehmes, taubes Gefühl.