Als wir hinter uns einen herannahenden Reiter hörten, wandten wir uns um und sahen einen Mann mit drei Handpferden auf uns zu kommen.
„Neacall!", rief Artair. „Ich bin froh, Euch wohlauf zu sehen!"
„Mein König." Neacall saß ab, legte die rechte Hand auf sein Herz und deutete eine Verbeugung an. „Mártainn schickt mich, nach Euch zu suchen. Er will dringend mit Euch sprechen."
„Was will denn der alte Knabe?", wollte Brayan wissen, aber Neacall machte eine Geste, die ihm bedeutete, dass er es nicht wisse.
„Er wird sich die gleichen Gedanken machen wie wir. Und ich hoffe, dass er mehr weiß und etwas Licht ins Dunkel bringen kann", erwiderte Artair.
„Mártainn weiß immer mehr als alle anderen", brummelte Brayan, „dazu ist er schließlich da."
Er nahm Neacall eines der Pferde ab und saß auf.
Ich lachte. „Ich bin mir nicht sicher, ob er Dir da zustimmen würde. Ich glaube, er ist der Meinung, dass der oberste Druide und Barde der Königreiche nicht dazu da ist, Dir zu erzählen, was Du noch nicht weißt."
„Er erzählt mir vor allem Dinge, die ich gar nicht wissen will", grinste Brayan.
Artair wandte sich an Neacall. „Wie sieht es aus?"
„Wir haben hohe Verluste, Herr." Neacall senkte den Kopf. Artair nickte. „Nehmt Euch alle Männer, die ihr braucht, und sorgt dafür, dass alle Verwundeten schnellstmöglich nach Caer Mornas zu den Heilern gebracht werden, und die Toten bringt zu ihren Familien."
Er zögerte einen Moment. „Oder bestattet sie sofort. Das überlasse ich Eurer Weitsicht."
„Was sollen wir mit den gefallenen und verwundeten Cul´Dawr machen, Herr?", wollte Neacall wissen.
„Dasselbe wie mit unseren Männern", erwiderte Artair knapp, und ich erkannte seine Anspannung an der Art, wie er den Kiefer zusammen presste. „Die Verwundeten bringt zu den Heilern, und bestattet die Toten. Aber abseits von unseren Männern."
Er saß auf, und wir wendeten die Pferde und galoppierten auf Caer Mornas zu.
Die hohe Mauer, die Caer Mornas wie einen Ring umgab, und das gewaltige Tor, mehr als sechs Männer hoch, kamen rasch näher. Als wir in seinen Schatten eintauchten, blickte ich nach oben, und ich kam mir beinahe wieder so klein vor wie damals, als ich es das erste Mal erblickte.
Ich erinnerte mich daran, als sei es gestern gewesen.
Ich war noch ein Kind, und ich hatte Angst. Man hatte mich von meiner Mutter, meinem Vater und meinen Schwestern weg geholt, und nun wurde ich in diese Stadt gebracht, deren Größe mit nichts vergleichbar war, was ich jemals gesehen hatte.
Die Frau, die mich im Arm hielt, damit ich nicht aus dem Sattel stürzte, hatte wenig Worte mit mir gewechselt; und nachdem wir den ersten Hof erreicht hatten, saß sie ab und hob mich vom Pferd.
Ein streng aussehender Mann kam auf uns zu, und plötzlich schlug die Panik wie eine Woge über mir zusammen.
Ich riss mich los und rannte davon, und hinter mir hörte ich eine ruhige Stimme sagen: „Lasst sie laufen. Es kann ihr nichts geschehen, und sie muss sehr durcheinander sein. Wir werden…", aber den Rest konnte ich nicht mehr hören, denn ich hatte den Rand des Hofes erreicht und tauchte in die schützende Dunkelheit eines Gebäudes ein, das sich als Stall entpuppte.
Ich kletterte eine Leiter empor und verbarg mich im süß duftenden Heu, und eine Weile konnte ich nur mein eigenes, wild pochendes Herz hören. Aber dann drangen die Geräusche von spielenden Kindern an mein Ohr, und schließlich siegte meine Neugier.
Vorsichtig und misstrauisch lugte ich die Leiter hinab, und als ich niemanden sah, kletterte ich rasch wieder hinunter und verließ den Stall auf der Rückseite, denn von dort kamen die Stimmen.
Ich gelangte in einen kleinen Hof, in dem ein halbes Dutzend Kinder spielte. Als ich in das gleißende Sonnenlicht trat und sie mich sahen, verstummten sie verblüfft und musterten mich neugierig.
Der größte und kräftigste von ihnen trat auf mich zu und schubste mich leicht.
„Hey", sagte er, „wer bist Du denn? Und was willst Du hier?"
Wenn ich das nur gewusst hätte. Ich schluckte hart und wollte antworten, aber meine Kehle fühlte sich wie ausgedörrt an und ich bekam keinen Ton heraus.
„Ha!", schrie der Junge plötzlich triumphierend, „Seht sie Euch doch mal an! Das muss sie sein!"
Er setzte ein gemeines Grinsen auf und schubste mich erneut.
„So sieht eine aus, die so hässlich ist, dass ihre eigene Mutter sie nicht mehr haben will!"
Er lachte laut gröhlend, und die anderen Kinder stimmten in sein Gelächter mit ein.
Heiße Tränen schossen in meine Augen, und der Schmerz über all das Unerklärliche, das mir zugestoßen war, erfüllte meinen ganzen Körper; und plötzlich schien etwas in mir zu zerspringen. Was zu viel war, war zu viel.
Ich stieß einen Schrei aus und rammte dem Jungen meine Faust in den Magen.
Er schnappte verblüfft nach Luft, doch dann sah ich etwas in seinen Augen aufblitzen, und er stürzte sich unter dem anfeuernden Gejohle der anderen Kinder auf mich.
Ich hatte keine Chance, er war doppelt so groß und schwer wie ich. Als ich das Gefühl hatte, jeden Moment ersticken zu müssen, hörte ich plötzlich eine Stimme.
„Uisdean", sagte sie, „verprügelst Du wieder kleine Mädchen?"
„IchbnknklnMdchn", presste ich hervor, aber mir war schon klar, dass niemand mich verstehen konnte.
Uisdean schien der Bursche zu sein, der auf mir lag, denn plötzlich war der Druck auf meiner Brust weg und ich schnappte nach Luft.
Ich schielte nach oben und sah einen blonden Jungen, gefolgt von einem dunkelhaarigen, die langsam auf meinen Angreifer zu gingen.
Der sah mit einmal recht kleinlaut aus.
„Ich hab gar nix gemacht, Brayan, wirklich!", beteuerte er, „Sie hat angefangen!"
Und er deutete anklagend auf mich. Der dunkelhaarige Junge hob zweifelnd eine Augenbraue, und der blonde, dessen Name Brayan zu sein schien, sagte mit trügerisch sanfter Stimme: „Warum kann ich das nur nicht glauben?"
Und dann, lauter: „Ich sage Dir heute zum letzten Mal, dass Du Dich mit gleich starken Leuten anlegen sollst, wenn Du Dich prügeln willst." Er grinste. „Oder mit mir", fügte er hinzu, und ehe Uisdean noch reagieren konnte, hatte er Brayans Faust auf dem Auge und ging zu Boden.
Er rappelte sich auf und warf Brayan einen hasserfüllten Blick zu. „Kommt", sagte er zu den anderen Kindern, und in kürzester Zeit war der Hof leer.
Die beiden Jungen beugten sich über mich und streckten mir helfend die Hände entgegen, aber ich zog es vor, ohne Hilfe aufzustehen. Mein Stolz war schon angeschlagen genug.
Dann standen wir drei uns zum ersten Mal gegenüber, und wir sahen uns genau an. Und ich konnte etwas spüren, das ich nicht benennen konnte. Etwas Intensives.
Plötzlich ging ein Strahlen über das Gesicht des blonden Jungen.
„Natürlich!" stieß er hervor. „Du musst Neiyra sein!"
„Ja", sagte ich misstrauisch.
Der Junge stieß ein glucksendes Geräusch aus, und ehe ich mich versah, war er mir um den Hals gefallen.
Ich fing an zu zappeln, und er ließ mich wieder los.
„Ich bin Brayan", sagte er, „und Du bist meine neue Ziehschwester!"
„Wirklich?", fragte ich verwirrt, aber Brayan strahlte noch immer.
„Ja, natürlich! Mein Vater hat es mir genau erklärt. Du wirst bei uns leben!"
„Oh", murmelte ich, denn ich hatte das Gefühl, dass er irgendetwas von mir hören wollte.
„Du musst Dir keine Gedanken wegen Uisdean machen", fuhr Brayan fort.
„Er ist ein gemeines, kleines Stinktier, aber wir haben ihn ganz gut im Griff. Das ist übrigens Artair, er ist mein Ziehbruder. Und natürlich jetzt auch Deiner."
Der schweigsame, dunkelhaarige Junge reichte mir die Hand und blickte mir in die Augen. Die seinen waren unglaublich blau, während die Brayans ein warmes Braun hatten.
Ich schniefte noch einmal kurz.
„Warum tut dieser Uisdean sowas?", wollte ich wissen.
„Er piesackt gerne Schwächere", erklärte Brayan. „Mit uns hat er das früher auch gemacht, weil wir auch anders sind. Aber dann waren wir irgendwann kräftig genug und haben ihn ordentlich verdroschen. Seitdem lässt er uns in Ruhe."
„Warum seid ihr anders?", wollte ich wissen.
Brayans Blick verdunkelte sich. „Meine Mutter. Sie ist irgendwann einfach … verschwunden. Und dann tauchte sie plötzlich wieder auf und hat nicht mehr geredet. Sie hat gar nichts mehr gesagt."
Ich konnte die Trauer und Verzweiflung in seiner Stimme hören. „Und dann, nach ein paar Tagen, ist sie einfach gestorben."
Er schwieg kurz. „Und Artair ... Artair hat gar keine Eltern mehr, deshalb ist er ja auch der König."
Ich musterte den mageren Jungen überrascht. „Du siehst nicht aus wie ein König."
„Nein, ich weiß", entgegnete Artair ernst. „Ich fühl´ mich auch nicht wie einer. Und Mártainn sagt mir immer, ich handele auch nicht wie einer."
„Mártainn ist sein Lehrer, und Du solltest ihm aus dem Weg gehen. Er beherrscht Magie", flüsterte mir Brayan zu.
„Jedenfalls", fuhr er dann lauter fort, „haben wir Uisdean bessere Manieren beigebracht. Und dann habe ich etwas zu ihm gesagt, das ihn dazu gebracht hat, die anderen Kinder in Ruhe zu lassen."
„Einer deiner dämlichen Einfälle", grinste Artair.
„Aber wirkungsvoll, oder?", erwiderte Brayan.
„Was? Was denn?", ich zappelte ungeduldig. „Was hast Du ihm denn gesagt?"
„Ich hab´ ihm gesagt, dass Artair ihn in den Kerker werfen lassen würde, wenn er die anderen Kinder nicht in Ruhe lässt. Und ihn nie wieder raus lässt. Schließlich ist er der König. Seitdem hat er schreckliche Angst vor Artair."
„Würdest Du das wirklich tun?", fragte ich Artair erschrocken.
„Nein, natürlich nicht!", entgegnete er ruhig.
„Artair tut niemals irgend etwas Unehrenhaftes", fügte Brayan ernst hinzu.
Und plötzlich fühlte ich mich gut. Der Schmerz war nicht vorbei und auch nicht vergessen, aber ich fühlte mich auf einmal geborgen. Ich sah Artair und Brayan an, und die beiden erwiderten meinen Blick.
Dann nahm Brayan meine linke Hand und ergriff auf der anderen Seite Artairs, und Artair tat es ihm gleich und nahm meine rechte Hand in die seine, und wir standen in der Sonne und bildeten einen perfekten Kreis.
„Wir drei", flüsterte Brayan, „wollen immer zusammen halten, nicht wahr?"
„Ja", sagte Artair voller Inbrunst, und ich sah ihn zum ersten Mal wirklich lächeln; und dieses Lächeln drang direkt in mein Herz. Und ich nickte.
„Träumst Du, Neiyra?" Artairs Worte holten mich in die Gegenwart zurück.
Wir hatten den ersten Innenhof erreicht, und ich konnte in der Ferne Mártainn und Dian, Brayans Vater, ausmachen, die Artair schon zu erwarten schienen.
„Ich gehe zu den Heilern und sehe, ob ich helfen kann", sagte ich. „Und ich nehme Brayan gleich mit, ich will mir seinen Arm ansehen."
„Oh, nein!", protestierte Brayan entsetzt. „Du wirst nichts dergleichen tun!"
Artair lachte. „Du stürzt Dich brüllend auf drei Cul´Dawr, die Dich um Haupteslänge überragen, und hast Angst, mit Neiyra zu gehen und diese lächerliche Wunde versorgen zu lassen?"
„Sie ist immer so streng zu mir", jammerte Brayan.
Artair lachte nochmal. „Ich komme nach, sobald ich kann", sagte er dann zu mir.
Er wandte sich ab und wollte sich schon entfernen, da zögerte er plötzlich und drehte sich nochmal um.
„Schließt die Tore", rief er mit lauter Stimme.
Die Torwächter sahen ihn verwundert an, und ich konnte ihr Erstaunen verstehen. Seit ich zurückdenken konnte, waren die Tore von Caer Mornas niemals am Tage geschlossen worden.
Aber ich hatte das gleiche, bedrohliche Gefühl von nahendem Unheil, das auch Artair zu diesem Befehl veranlasst haben musste.
Und als die mächtigen Tore mit einem dumpfen, dunklen Ton zufielen, schien es mir, als sei irgendetwas unwiederbringlich verloren gegangen.
So, das war´s dann für heute. Ich hoffe, ihr hattet Spass!